2011- Das ist das Jahr, an dass wir uns in Zukunft noch lange erinnern werden. Wie an 1989. Das Jahr, in dem die arabischen Nationen sich tiefgreifend veränderten. In was- das werden wir wohl erst in einigen Monaten oder Jahren erfahren.
2011- In diesem Jahr fing es an. Gründe zu revoltieren gab es zuhauf. Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zustände im arabischen Raum sind seit Jahrzehnten miserabel. An repressiven Regimes mangelt es nicht, Menschenrechte werden mit Füßen getreten, ethnische und religiöse Minderheiten sowie Frauen werden wie Menschen zweiter Klasse behandelt. In fünf Ländern herrschen die Machthaber schon seit über 20 Jahren: Libyen, Oman, Jemen, Ägypten und Tunesien- in Libyen und Oman sogar schon über 40 Jahre. Trotz großer Ölvorräte sind fast alle arabischen Länder Entwicklungsländer, die Korruption ist allgegenwärtig. Nur in einem herrscht bei den arabischen Nationen Einigkeit: Der Hass gegen Israel, dem einzigen nicht-muslimischen Land im Nahen Osten.
Die Menschenrechtsorganisation “Freedom House” stuft kein einziges arabisches Land als “Wahldemokratie” ein. Auch die Einstufung “frei” bekommt kein einziges arabisches Land, Libanon, Kuwait und Tunesien gelten als “teilweise frei”. Israel dagegen wird als “frei” und “Wahldemokratie” eingestuft.
Demokratiebewegung oder neue Unterdrückung?
Obwohl alle Proteste von den Entwicklungen in Tunesien inspiriert wurden, haben sie doch unterschiedliche Ursachen. Das unterscheidet die Umwälzungen von 2011 mit denen von Osteuropa im Jahre 1989, die sich alle kollektiv gegen die sozialistischen Regierungen und deren Bevormundung durch die Sowjetunion richteten. Im arabischen Raum gibt es keine Hegemonialmacht und keine einheitliche Ideologie.
Während Tunesien schon unter Ben Ali im Vergleich zu seinen Nachbarn ein teilweise freies und progressives Land war, war Ägypten unter Mubarak ein Polizeistaat (was den Erfolg der Revolte erstaunlicher macht). Auch Algerien und Syrien sind Polizeistaaten, weswegen es dort im Moment (noch) vergleichsweise ruhig ist. Marokko und Jordanien dagegen haben die Demonstrationen von Anfang an ausdrücklich erlaubt. Im reichen Bahrain spielen ethnisch-religiöse Spannungen eine Rolle: Die schiitische Mehrheit fordert mehr Mitbestimmung von der sunnitischen Regierung. In Jemen und Libyen spielen Stammeskonflikte eine gewichtige Rolle bei den Protesten, beide Staaten waren künstliche Produkte der europäischen Kolonialmächte (Großbritannien und Italien) und könnten wieder in Einzelstücke zerfallen.
Die Proteste lassen sich mehr mit denen von 1848 vergleichen als 1989. In den beiden Mutterländern des Arabischen Frühlings, Tunesien und Ägypten, haben sich die Demonstranten ihren Diktator verjagt und in Tunesien ist die Revolution im Grunde schon beendet. Nach dem Sturz des Diktators Ben Ali sind bereits viele Reformen, die von den Demonstranten gefordert wurden, verwirklicht. Wie die WELT berichtet, hat die Übergangsregierung als erstes Land in Nordafrika die Todesstrafe abgeschafft, es herrschen Versammlungs- und Pressefreiheit, die Zensur wurde abgeschafft und der Ausnahmezustand aufgehoben. Die ehemalige Regierungspartei RCD ist verboten worden, viele neue wurden gegründet. Nun fordern „Revolutionäre der ersten Stunde“ auch mehr Rechte für Frauen und eine striktere Trennung von Staat und Religion. Eine akute Gefahr von Islamisten gibt es momentan nicht. Die meisten Mitglieder der neuen Regierung sind in Europa (Frankreich) gebildet- eine gute Voraussetzung für eine demokratische Entwicklung in Tunesien.
Aber schon wenn man nach Ägypten schaut, stellt sich die Sache schwieriger dar: Das Militär hat die Macht keineswegs abgegeben, statt Mubarak herrscht jetzt Tantawi. Die Muslimbrüder hielten sich anfangs zurück, doch sie könnten die neue Freiheit dazu ausnutzen, die Macht zu übernehmen und einen Gottesstaat iranischer Prägung zu errichten. Der Nordafrika-Experte Alya Allani glaubt, dass die Muslimbrüder die stärkste glaubt politische Partei werden würden. Eine Diktatur würde durch eine andere ersetzt, nur dass die Muslimbrüder mit ihrem antiisraelischen Kurs auch den Frieden in der Region gefährden könnten, den Mubarak trotz seines autoritären Regierungsstils drei Jahrzehnte lang garantiert hatte.
Auch in anderen Ländern hat sich was getan: In Jordanien hat der König die Regierung abgesetzt und schnelle Reformen versprochen. In Jemen, Bahrain, Algerien, Marokko, Syrien, Oman, Kuwait, Katar, Saudi-Arabien sowie im Irak und den palästinensischen Autonomiegebieten hat sich bis jetzt trotz der Proteste nur wenig verändert.
Der Arabische Frühling wirft seine Schatten aber auch auf andere Regionen: Die Angst vor einem Volksaufstand hat in Mauretanien, einem Land, wo vermutlich über eine halbe Million Menschen als Sklaven leben, dazu geführt, dass der Präsident die Preise für Nahrungsmittel um 30% gesenkt hat. Auch im Iran, in China und in einigen schwarzafrikanischen Ländern wie Dschibuti, Uganda und Kamerun und sogar in Tibet kam es zu vom Arabischen Frühling inspirierten Protesten.
Die Gefahren von Revolutionen
Da schreit einer „Menstruation! Menstruation!“, ein anderer „Revolution! Revolution!“, ein Dritter erwidert: „Egal, Hauptsache es fließt Blut.“ Diese scherzhafte Anekdote trifft auf den Arabischen Frühling bereits zu- über 800 Tote in Ägypten, Bürgerkrieg in Libyen und auch im Jemen sind schon die ersten Toten zu beklagen. Dies könnte erst der Anfang sein.
In der Achse des Guten erklärt Hannes Stein den Ablauf von Revolutionen:
Revolutionen pflegen folgendem Ablaufmuster zu folgen:
1. Widerstand gegen ein verhasstes Regime. Große und berechtigte Furcht vor dem Massaker, mit dem die alte Bande sich gegen die Aufständischen wehrt.
2. Wenn es kein Massaker gibt oder das Massaker nicht ausreicht, um die Revolutionäre einzuschüchtern, passiert Folgendes: Teile der Elite fangen an, zu den Revolutionären überzulaufen. Die Furcht wird kleiner.
3. Machtübernahme durch die Revolutionäre, meist eher unblutig. Die Revolution tritt in ihre Euphoriephase.
4. Die Revolutionäre fangen an, sich untereinander zu zerstreiten. Die Revolution wird endgültig manisch. Schlaflose Nächte. Jetzt wird es interessant, denn es gibt zwei verschiedene Möglichkeiten:
4a. Die Revolutionäre beschließen, ihre Konflikte in der Schwebe zu lassen und einen Modus zu finden, sich irgendwie durchzuwursteln. Wenn es gelingt, diesen Schwebezustand stabil zu halten, ist das Ergebnis furchtbar schlampig, aber wunderbar: liberale Demokratie (oder konstitutionelle Monarchie). Allerdings tritt die Revolution damit auch in ihre depressive Phase ein, denn Demokratie ist ja keine Lösung für irgendwas, sondern ein äußerst komplizierter Modus, um ohne Bürgerkrieg nach Lösungen zu suchen.
4b. Eine Fraktion setzt sich auf Kosten aller anderen durch und putzt ihre Gegner von der Platte. Folge: kompletter Wahnsinn, Euphorie mit Paranoia gekoppelt, enormes Blutvergießen, das zumindest am Anfang von den Volksmassen mit Begeisterung aufgenommen wird.
Beispiele für 4a: Glorious Revolution, amerikanische Revolution, samtene Revolution in der Tschechoslowakei.
Beispiele für 4b: franzoesische Revolution, kubanische Revolution 1959, iranische Revolution 1979.
Zu bedenken ist dabei, dass 4b nicht sofort eintreten muss. Die Jakobinerherrschaft begann in Frankreich 1793, d.h. vier Jahre nach der Kapitulation des Ancien Regime. Im Iran dauerte es beinahe ein ganzes Jahr, bis sich nach der panischen Flucht des Schah-in-Schah die “Islamische Republik” etabliert hatte.
Wohin wird sich der Arabische Frühling entwickeln?
Im Tagesspiegel kritisiert Malte Lehming den NATO-Einsatz in Libyen. Die Rebellen, die sich gegen Gaddafis Herrschaft auflehnen, kommen aus einer Region, die nach US-Angaben den größten proportionalen Anteil an Terroristen hat, die im Irak tätig sind, noch vor Saudi-Arabien. In der Vergangenheit hat Gaddafi selbst etliche Terrororganisationen und zahlreiche Despoten ausgebildet und unterstützt, nun könnten Terroristen aus seinem eigenen Land zu seinem Sturz beitragen.
In einem anderen Text von Malte Lehming wird noch mehr Kritik am „Arabischen Völkerfrühling“ geäußert: Einer der Anführer der Rebellen, Abdel Hakim al-Hasidi, hat in Afghanistan gegen die NATO gekämpft und gehört zur „Libyan Fighting Islamic Group“, die der al-Qaida nahesteht. In der Rebellenhochburg Bengasi sollen Schwarzafrikaner gejagt werden, weil man sie für Söldner Gaddafis hält. In Ägypten wurden Frauen nach dem Sturz Mubaraks von Militärangehörigen misshandelt. Außerdem stammt das „Lied“ des Arabischen Frühlings vom tunesischen Rapper „El General“, der in anderen Liedern antisemitische und rassistische Meinungen äußert.
2011- Als was wird uns dieses schicksalhafte Jahr in Erinnerung bleiben? Der Beginn der Demokratisierung der muslimischen Welt oder der Anfang einer fürchterlichen Entwicklung, die ganze Generationen traumatisiert zurücklassen wird?
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