Der wahre „Frühling“ ist nicht arabisch

Die Flagge der Autonomen Region Kurdistan im Irak

Die Flagge der Autonomen Region Kurdistan im Irak

Übersetzung des Artikels
Der wahre “Frühling” ist nicht arabisch
von Emanuele Ottolenghi
erschienen am 31. Mai 2012 in Times of Israel

Der wahre “Frühling” ist nicht arabisch 

Unter dem Nachrichtenkreislauf des Arabischen Frühlings ist eine übersehene und potenziell revolutionäre Tatsache verborgen- der wahre “Frühling”, der in den Ländern der Arabischen Halbinsel, der Levante und Nordafrika im Gange ist, ist nicht arabisch.

Sag‘ über den Arabischen Frühling was du möchtest. Aber bis jetzt war die Rückkehr von ethnischen, tribalen und religiösen Identitäten in die politische Bühne als Herausforderung für die Vorstellung einer uniformen arabischen Welt die außergewöhnlichste und zerstörerischste Entwicklung der letzten 18 Monate. Die Wahrheit ist dass die arabische Welt eine künstliche Erfindung ist, das illegitime Kind einer inzestuösen Beziehung zwischen europäischem Kolonialismus und arabischem Nationalismus. Als Frankreich und Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg das Osmanische Reich in Protektorate zerlegten, ignorierten sie weitgehend das Prinzip vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, das in den Vierzehn Punkten vom US-Präsidenten Woodrow Wilson bekräftigt worden war, die einzigen Ausnahmen waren möglicherweise der kurzlebige Drusenstaat unter französischer Herrschaft in Syrien und die zögernde Erfüllung der Balfour Deklaration in Palästina.

Der arabische Nationalismus bekämpfte die koloniale Herrschaft und erkämpfte die künstlich gezeichneten Grenzen der regionalen Ordnung nach 1918. Aber die arabischen Nationalisten missachteten die Rechte der nicht-arabischen Minderheiten, die sie für sich selbst lautstark gefordert hatten. Die arabischen Regimes, die im Zeitalter von Ägyptens pan-arabischem nationalistischen Herrscher Gamal Abdel Nasser an die Welt kamen, sprachen von Selbstbestimmung. Ihre Anhänger glaubten, dass die Grenzen, die die arabischsprechenden Völker vom Atlas zum Golf trennten, ihnen von ausländischen Mächten aufgezwungen worden waren- künstlich und ungerecht. Sie wagten jedoch nie zu erkennen, dass ihr Aufruf zur Einigung ebenso künstlich war wie die Einteilung, die sie zu überwinden anstrebten. Einmal an der Macht, diskriminierten, verfolgten und vertrieben sie offen Minderheiten. Die, die verblieben, litten oft unter kräftiger Arabisierung.

Religiöse Minderheiten genossen bestenfalls Schutz- dieselbe Art von mildem zweitklassigem Status, den vormoderne osmanische Herrscher ihnen schon in der Vergangenheit erteilt hatten. Dieser Schutz war dennoch brüchig- ihre Rechte basierten auf das Wohlwollen eines Herrschers, die schwächste aller Garantien- wie Armenier, Bahais, Kopten und Juden jeweils nacheinander schmerzvoll lernten. Nationale Ansprüche wurden nie anerkannt: Die Massengräber der Kurden im Irak und der Völkermord an Sudans animistische und christliche Völker tragen Zeuge davon.

Der Sturz von Tyrannen hat nun eine Öffnung bewirkt. Der Übergang zur Demokratie hängt in Ägypten und Tunesien in der Schwebe. Syriens Diktator klammert sich immer noch an der Macht. Arabische Monarchien haben bisher den Sturm überstanden- obwohl noch nicht alle in ruhigen Gewässern sind. Aber unter dem Radar beginnt das Undenkbare zu geschehen.

Das Wort “Frühling” mit demokratischem Wandel zu verbinden ist eine alte Gewohnheit der Geschichte: die Welle der europäischen Revolutionen, die die autoritären Imperien Europas kurzzeitig schockierten, wurde “Frühling der Nationen” genannt. Genauso wie 120 Jahre später der Prager Frühling von 1968 und in jüngster Zeit die friedlichen Revolutionen gegen die kommunistische Herrschaft in Ost- und Mitteleuropa 1989. Auch wenn all diese Ereignisse ihren Schwerpunkt auf individuelle Freiheiten setzten, die ihre Wurzeln in den klassisch liberalen Forderungen nach Bürgerrechten hatten, ging es bei vielen dieser Revolutionen um Selbstbestimmung- nationale Aufstände gegen multiethnische Imperien die, durch autoritäre Herrschaft, sowohl individuelle Rechte als auch nationale Identitäten zertrampelten.

Mit dem Sturz der tyrannischen arabischen Herrschaft passiert nun jetzt etwas Ähnliches in der regionalen arabischen Ordnung. Wenn die arabischen Staaten zur Demokratie übergehen, aber die gemeinsamen Rechte ihre Minderheiten vergessen, werden sie ein erneut vom Zentrum wegstrebende Kräfte entzünden.

Nimm‘ die Kurden. Die Geschichte ist grausam zu ihnen gewesen: Ihre Bestrebungen für einen Nationalstaat wurden in der Versailler Konferenz 1919 zerschmettert. Ihre Heimat wurde zwischen vier Ländern zerlegt- Iran, Irak, Syrien und der Türkei- dessen giftiger Nationalismus genauso versessen war, ihnen ihre grundlegendsten Rechte zu verweigern. Aber seit 1991 ist, dank einer vom Westen erzwungenen Flugverbotszone über Irakisch-Kurdistan, ein freies und unabhängiges Kurdistan entstanden- ein außer dem Namen nach fertiger Staat. Jetzt, da die Unruhen in Syrien die einheimischen Kurden betreffen, wird die Versuchung stark sein, die Barrieren des arabischen Nationalismus zu durchbrechen.

Kurdistan ist keine Ausnahme; es könnte ein Vorbote für kommende Ereignisse sein.

Letztes Jahr befreite sich der nicht-arabische Südsudan endlich vom Joch der Unterdrückung ihrer nordarabischen Herrscher. Südsudan hängt natürlich in der Schwebe; Irakisch-Kurdistan bleibt formal Teil des Irak, und die meisten Kurden bleiben unter dem Joch der Unterdrückung in Syrien, der Türkei und dem Iran. Aber da zentralisierte arabische Regimes andernorts einen ungewissen Weg gehen, gibt es eine Öffnung.

In Somalia- einem Mitglied der Arabischen Liga- befreiten sich die ehemals kolonialen britischen Besitzungen von Puntland und Somaliland vom südlichen Chaos von Mogadischu und ihrer unruhigen Umgebung. In Libyen- einem Land das mit Macht zusammengehalten wird und jetzt nicht länger seinem Diktator verpflichtet ist- ist Araber oder Muslim zu sein nicht der bestimmende Faktor für politische Identität und nationale Selbstverwaltung. Syrien wird- wenn sein mörderischer Herrscher Bashar al-Assad endlich gegenüber den Forderungen seines Volkes kapituliert- möglicherweise demselben Weg folgen. Andernorts, in Zentralafrika, riefen die Tuareg-Bevölkerungen im Norden Malis ihre Unabhängigkeit aus und haben einen neuen Staat etabliert- Azawad. Es liegt am Rande der arabischen Welt, aber es wird vielleicht separatistische Bewegungen quer durch Nordafrika ermutigen, wo auch immer Berberstämme arabische Diskriminierung erleiden.

Der Niedergang des arabischen Staates ist nicht gewiss; selbst wenn er kommt, könnte er genauso blutig und chaotisch werden wie ethnische Konflikte in der post-kommunistischen Ordnung im Balkan und dem Kaukasus. Aber der Arabische Frühling bietet ein Versprechen: Freiheit für die nicht-arabischen ethnischen Gruppen und die nicht-muslimischen religiösen Minderheiten des Nahen Ostens.

Es ist ein Versprechen dass der Westen begrüßen sollte. Eine ungerechte Ordnung mit einer zu ersetzen die weiterhin die Rechte der Minderheiten missachtet wird niemals Stabilität, Frieden und Prosperität zu diesen Ländern bringen.

 

4 Antworten to “Der wahre „Frühling“ ist nicht arabisch”

  1. antifo Says:

    Syrien: Die Idee einer russischen Flugverbotszone

    Syrien: Die Idee einer russischen Flugverbotszone

    • Nichtglauber Says:

      Auch das bereits auf den Schreibtischen befindliche „Arbeitspapier“ der russischen Luftwaffe, in wie weit ein Schutz der in Syrien befindlichen russischen Staatsbürger (mehrere Zehntausend) sich garantieren ließe, entspringt wohl eher der diplomatischen Verklausulierung einer bereits ernsthaft (nur ?) diskutierten Entsendung von russischen „Friedensaktivisten“ in das Nahostland.
      Putin und Russland können es sich gar nicht leisten, dieses für sie aus mehreren Gründen immens wichtige Land als Allierten zu verlieren. Das heisst, der Verzicht auf Assad ginge nur parallel mit der Sicherheit, dass der Ersatzmann die gleichen Gleise besetzen würde. Die Nato, die Golfstaaten und Israel hätten in diesem Falle aber kaum bis gar keinen Schritt nach vorne gemacht. Daher werden sie auf Stur stellen (müssen), so wie es z. Zt. eben auch Russland und China machen. Am Ende werden viele Faktoren (sich wandelnde öffentliche Meinung?, wirtschaftl. Lage Europas und der USA, politische Entwicklung in SA und Bahrain, Zusammenhalt der BRICS-Staaten, punktuelle Geschehnisse in Syrien u.v.m.) den Ausschlag geben, in welche Richtung dieses desaströse Heuchelschauspiel am Ende gehen wird.
      So lange wird die überwiegende Mehrheit der syrischen Bevölkerung, die diesen blutigen, von außen maßgeblich gesteuerten Konflikt ablehnt, sich in Geduld und Gottesergebenheit üben müssen. Sie sind der wahre Verlierer!

    • arprin Says:

      “Die von einem IAF-Angriff auf syrische Chemiewaffen ausgehende Gefahr für die syrische Zivilbevölkerung läßt sich nicht leugnen.”

      Und wie schätzt du dann diese Drohung ein, die wohlgemerkt in einer iranischen Zeitung verkündet wurde?
      http://english.farsnews.com/newstext.php?nn=9007100300
      “If a crazy measure is taken against Damascus, I will need not more than 6 hours to transfer hundreds of rockets and missiles to the Golan Heights to fire them at Tel Aviv,”

      Angesichts dieser massiven Vernichtungsdrohungen von Assad denke ich, dass Israel eigentlich das Völkerrecht auf seiner Seite hätte, wenn es Syrien besetzen würde. (Es sei denn, FARS verbreitet zionistische Propaganda für einen imperialistischen Angriffskrieg Israels.)

      Möglicherweise können sich ja Israel und Russland auf ein gemeinsames Vorgehen in Syrien einigen, um die Ermordung von Hunderttausenden israelischen Zivilisten durch syrische WMDs zu verhindern.

      Dazu müsste Assad gestürzt werden und die WMDs unter Kontrolle gebracht werden. Assad könnte dann auch vom ICC wegen des Genozids von al-Hula rechtlich belangt werden. Ein israelisch-russicher Kontrollrat könnte gemeinsam mit einer Militärallianz mithelfen, die Zukunft in Syrien zu gestalten, vor allem, wenn es um die Bekämpfung von islamistischen Banden geht. Obama wird vor den Wahlen sowieso nichts machen, wieso dann nicht Putin?

      Vielleicht könnten sie ja auch Sergej Lawrow ein Brief schicken.

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