Der Neoliberalismus ist Schuld an der Ausbeutung der Armen, an der zunehmenden Ungleichheit bei den Einkommen, an dem Hunger in der Dritten Welt, an der Schiffskatastrophe in Südkorea und am Aussterben der Dinosaurier. Nun gut, das letzte Beispiel dürfte zu viel des Guten sein. Aber die anderen vier genannten Missstände sind tatsächlich dem Neoliberalismus angelastet worden. In der FAZ meinte der südkoreanische Philosoph Byung-Chul Han, dass „der Neoliberalismus“ Schuld an der Schiffskatastrophe in Südkorea ist, bei der über 200 Schüler gestorben sind. Er führt dafür drei Gründe an:
1. Schiffe mussten früher nach 20 Jahren ausgetauscht werden, die Frist wurde aber durch „neoliberale“ Deregulierungen auf 30 Jahre verlängert, so dass das 18 Jahre alte Schiff nicht ausgemustert wurde.
2. Rettungsdienste bei Unfällen auf See wurden teilprivatisiert, deshalb geht er davon aus, dass es zu Koordinationsproblemen zwischen den privaten Rettungsdiensten und der Marine kam.
3. Der Kapitän hatte keinen festen Arbeitsvertrag, er war ein Zeitarbeiter und hatte deshalb keine Bindung an das Schiff, weswegen er auch nicht bereit war, sich für die Schüler zu opfern. Früher hätte kein Besatzungsmitglied überlebt.
Schauen wir uns die Argumente mal genauer an:
1. Han behauptet: „Die rein profitorientierte Unternehmenspolitik erhöht massiv das Unfallrisiko“. Diese Behauptung erklärt er aber nicht, er stellt sie einfach in den Raum. Eine Reederei will Profit machen – ist es da nicht viel rationaler, Schiffe zu benutzen, die sicher sind und über lange Zeit Gewinne einfahren, anstatt zu verunglücken? Außerdem bezweifle ich, dass eine Regel, wonach Schiffe nach 20 oder 30 Jahren ausgemustert werden müssen, wirklich die Unfallgefahr senkt. Wahrscheinlich würde man ein Schiff, das in 1 oder 2 Jahren sowieso vom Gesetz her ausgemustert werden muss, erst recht vernachlässigen.
Man kann dieses Argument auch empirisch nachprüfen: Gibt es in Ländern, in denen der Schiffsverkehr stark vom Staat reguliert wird, weniger Unfälle? Gibt es im Sozialismus keine Unfälle? Nun, wenn man sieht, wie Ölraffinerien in Venezuela in die Luft gehen, kann man dies zumindest anzweifeln. In der Dritten Welt ereignen sich ständig Fährunglücke, obwohl sie in den Medien in der Regel weniger beachtet werden. Und nicht nur das, auch Flugzeuge und Züge verunglücken öfter. Für Leute wie Han sind diese wohl nicht erwähnenswert, da man nicht dem Neoliberalismus die Schuld geben kann.
2. Dieser Punkt ist reine Spekulation. Han vermutet lediglich, dass es zu Koordinationsproblemen zwischen den privaten Rettungsdiensten und der Marine kam, aber er stellt es nicht als Tatsache dar. Das macht seine Aussage: „Privatisierung der Rettungsdienste, die angeblich Kosten senken soll, stellt aber ein Risiko dar“, noch absurder. Worin liegt das Risiko bei der Privatisierung von Rettungsdiensten? Ist es im Notfall für die Opfer nicht sowieso egal, ob die Rettungskräfte vom Staat oder von Privaten bezahlt werden? Und kann es nicht auch innerhalb von staatlichen oder von privaten Rettungsdiensten zu Koordinationsproblemen kommen?
Im Übrigen gibt es in Südkoreas Nachbarschaft ein Experiment zu der Frage, ob der Staat immer die besseren Rettungsdienste anbietet:
Eine Studie des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz untersuchte die weltweiten Auswirkungen von Naturkatastrophen im Zeitraum 1997 bis 2006. Insgesamt waren in den 220 untersuchten Staaten und Territorien rund 1,2 Millionen Opfer zu beklagen. Fast 40 Prozent davon entfielen auf einen einzigen und nicht einmal besonders bevölkerungsreichen Staat: Nordkorea. Und das war keineswegs einer ungewöhnlichen Konzentration von Naturkatastrophen auf der koreanischen Halbinsel geschuldet. Vielmehr versagte das Regime massiv und durchgängig, wenn es um vorbeugende Maßnahmen und um das Krisenmanagement nach Naturkatastrophen ging. Zum Teil löste eine verfehlte Politik – wie etwa die systematische Rodung von Wäldern, die zu massiven Überschwemmungen beitrug – solche Katastrophen erst aus.
(Quelle)
3. Hier haben wir es wohl mit dem dümmsten Argument von Han zu tun. Seiner Ansicht nach sind Arbeiter besonders dann motiviert, wenn sie keine Konkurrenz haben, also „praktisch unkündbar“ sind. Wenn sie sich dagegen dem Arbeitsmarkt stellen müssen, sacken ihre Leistungen angeblich ab. Der Kapitän des Schiffs war, da ist sich Han sicher, aufgrund seines befristeten Arbeitsverhältnisses nicht bereit, sein Leben für die Schüler aufs Spiel zu setzen: „Unter solchen Arbeitsbedingungen entstehen kein Engagement, keine starke Bindung an das Schiff und auch kein Gefühl der Verantwortung“.
In der Realität ist jedoch so, dass die, die unkündbar sind und keine Konkurrenz haben, im Vergleich zu denen, die sich der Konkurrenz stellen müssen, eher weniger motiviert sind. Das fängt bei den einfachen Beamten an und setzt sich fort bis zu staatlichen Großprojekten wie dem Berliner Flughafen, der Elbphilharmonie in Hamburg und Stuttgart 21. Da es völlig unmöglich ist, sie für ihre schlechte Leitungen zu kündigen, arbeiten Monopolisten meist weniger effizienter als die, die im Wettbewerb um Kunden stehen, da die Kunden bei schlechten Leistungen zu anderen Anbietern abwandern können. Der Wettbewerb ist effizienter als ein Monopol.
Zum Glück gab es in der Kommentarsektion auch kritische Anmerkungen zu Hans Artikel:
Endlich erklärt uns jemand, dass nur lebenslange Beschäftigungsgarantie ein effizientes Arbeiten ermöglicht.
Und die ganz ganz wenigen unmotivierten Beamten sind zufällig in den Behörden versammelt, die ich aufsuchen muss.
Andreas Müller, auch bekannt als Feuerbringer, stellte folgende Zahlen bereit:
Was der Neoliberalismus wirklich mit Südkorea gemacht hat …
Bruttoinlandsprodukt Südkorea 1950: 10.000 Dollar
Bruttoinlandsprodukt Südkorea 1975: 100.000 Dollar
Bruttoinlandsprodukt Südkorea 2010: 1.000.000 DollarZahlen nach South Korea GDP (PPP) evolution from 1911 to 2008 in millions of 1990 International dollars. Quelle: Angus Maddison
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Mai 4, 2014 um 01:16 |
[…] Ist der Neoliberalismus an allem schuld? […]
Mai 4, 2014 um 14:53 |
etwas sehr bemerkenswertes ist passiert, in der Zeit wird über Währungswettbewerb berichtet: http://www.zeit.de/2014/18/finanzmarkt-ezb-schuldenpapiere
Mai 4, 2014 um 15:03 |
Wobei ich nicht verstehe, warum es dann keine Krisen mehr geben und das Paradies auf Erden herrschen sollte. (ok, letzteres hat er nicht gesagt)
Mai 4, 2014 um 16:11
Es würde weiter Krisen geben, aber es gäbe weniger Fehlinvestitionen und Spekulationsblasen, da der freie Preisbildungsprozess nicht durch die Zentralbankeingriffe massiv verzerrt werden würde.
Mai 4, 2014 um 16:32
Vielleicht bliebe auch alles beim Alten, schließlich könnten sich im freien Wettbewerb den jetzigen ähnliche Währungen durchsetzen: http://www.zeit.de/2014/18/finanzmarkt-ezb-schuldenpapiere?commentstart=25#cid-3598715
Mai 4, 2014 um 16:10 |
Hab‘ ich schon gesehen. Sehr erstaunlich dass das in der ZEIT kommt!
Mai 4, 2014 um 15:45 |
Andreas Müllers Zahlen erscheinen deutlich zu gering (sechs Nullen vergessen -Angabe war ja in Millionen?).
Mai 4, 2014 um 16:21 |
Die Angabe war in Millionen Dollar, die sechs Nullen muss man sich also dazu denken. Hier ein Bild dazu:

Mai 4, 2014 um 15:46 |
http://fdogblog.wordpress.com/2014/05/04/wie-die-fas-verschifft-240-tote-durch-neoliberalismus/
Mai 4, 2014 um 16:12 |
Sehr guter Artikel!
Mai 4, 2014 um 16:15
Danke
Mai 4, 2014 um 16:40 |
„no trickle down effect?!“ (mit der Behauptung dass es den nicht gäbe, wird der Neoliberalismus häufig als kompletter Unfug vorverurteilt): http://edanyago.me/2014/01/01/no-trickle-down-effect-here-it-is-you-selfish-rich-people/ und hier die studie http://www.nber.org/papers/w15433.pdf?new_window=1
Mai 6, 2014 um 02:03 |
„Unser Geldsystem ist Sozialismus für Reiche“: http://www.welt.de/debatte/kommentare/article127643658/Unser-Geldsystem-ist-Sozialismus-fuer-Reiche.html
„Plutokraten wie George Soros“ aha.
„Während Reiche und Großunternehmen vom schnellen und direkten Zugang zu neu geschaffenem Geld profitieren, […]“ Was ist mit der Mittelschicht die Miteigentümer der Großunternehmen ist, profitiert die dann nicht davon?
„Das inflationäre und monopolistische Staatsgeldsystem und das Privileg der Banken, Geld aus dem Nichts schöpfen zu können, gehen auf staatliche Interventionen zurück.“ Nein, der von mir schonmal verlinkte Kommentar macht deutlich warum nicht: http://www.zeit.de/2014/18/finanzmarkt-ezb-schuldenpapiere?commentstart=25#cid-3598715
Mai 6, 2014 um 13:58 |
Von den meisten nichtwissenschaftlichen Artikeln über das Geldsystem ist es nur ein kleiner Schritt zu obskuren Verschwörungstheorien.
Mai 8, 2014 um 20:29 |
dass sich Tschernobyl in der Sowjetunion und nicht im neoliberalen Westen ereignet hatte, könnte man auch noch anmerken.
Mai 9, 2014 um 00:08 |
AKWs sind nun auch im Westen kein Paradebeispiel für Neoliberalismus. Freien Handel der Brennelemente und fehlende Regierungsregulierungen sind in der Branche wahrschieinlich eher selten der Fall (ganz zu Schweigen von den engen Verpflechtungen von Staaten und Betreibern, aber das ist für Neoliberale eher nebensächlich).
Ich denke eine Komplettliberalisierung hiervon steht auch bei eher weniger Liberalen oben auf der Agenda.