Zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz gab es mal wieder kleinere und größere Skandale. Putin sagte ab oder wurde nicht eingeladen, was einige als Brüskierung ansahen (als ob es eine Beleidigung der KZ-Opfer oder der sowjetischen Soldaten ist, wenn man den Präsidenten des Rechtsnachfolgers der Sowjetunion 70 Jahre später nicht einlädt). Andere wiederum kritisierten, das im Bundestag kein Überlebender sprach, sondern Bundespräsident Gauck. Für mich sind solche Angelegenheiten nur kleine Aspekte eines größeren Problems, und zwar, wie wir mit dem Gedenken an die Verbrechen der Nazis umgehen. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit liegen Welten.
Zuerst einmal: Was genau ist der Sinn des Gedenkens an Auschwitz? Als Erstes ist da natürlich die Erinnerung an die Opfer. Das ist der unumstrittene Punkt, auf den sich restlos alle einigen können. Dieses Verbrechen war so monströs, dass es selbst nach so langer Zeit immer noch bei vielen Menschen Entsetzen auslöst. Aber es ist nicht zu leugnen, dass die Gedenkfeiern vorgeben, mehr zu sein als nur Erinnerung an die Opfer. Der gängigste Satz ist: „Wir müssen uns daran erinnern, damit sowas nie wieder passiert“. Nie wieder! Soll das der eigentliche Grund für das Gedenken sein? Unsere eigene Geschichte soll als Lektion dienen, damit sich diese Verbrechen nie mehr wiederholen?
Ich wage zu behaupten, dass man nicht die Nazis nicht gebraucht hätte, um zu wissen, dass es falsch ist, Menschen millionenfach zu vergasen. Viele Völker haben diese Erfahrung nicht gemacht, ohne deshalb „holocaust-gefährdet“ zu sein. Wenn es also nicht bloß darum geht, Massenmord moralisch zu verurteilen, worum geht es dann? Der Massenmord in Auschwitz hatte ein klares Motiv: Den Hass auf Juden. Deswegen haben die Gedenkfeiern den Anspruch, Antisemitismus ganz besonders zu verurteilen. Aber so richtig hat das nicht funktioniert. Stattdessen scheinen nun viele zu glauben, Antisemitismus beginne erst mit 6 Millionen Toten (oder, um es weniger zynisch auszudrücken, mit dem Mord an einem Juden). (more…)