Archive for Januar 2015

Gedenken als Routine

Januar 30, 2015

Das Gedenken an Auschwitz gehört zum festen Bestandteil der politischen Kultur

Zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz gab es mal wieder kleinere und größere Skandale. Putin sagte ab oder wurde nicht eingeladen, was einige als Brüskierung ansahen (als ob es eine Beleidigung der KZ-Opfer oder der sowjetischen Soldaten ist, wenn man den Präsidenten des Rechtsnachfolgers der Sowjetunion 70 Jahre später nicht einlädt). Andere wiederum kritisierten, das im Bundestag kein Überlebender sprach, sondern Bundespräsident Gauck. Für mich sind solche Angelegenheiten nur kleine Aspekte eines größeren Problems, und zwar, wie wir mit dem Gedenken an die Verbrechen der Nazis umgehen. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit liegen Welten.

Zuerst einmal: Was genau ist der Sinn des Gedenkens an Auschwitz? Als Erstes ist da natürlich die Erinnerung an die Opfer. Das ist der unumstrittene Punkt, auf den sich restlos alle einigen können. Dieses Verbrechen war so monströs, dass es selbst nach so langer Zeit immer noch bei vielen Menschen Entsetzen auslöst. Aber es ist nicht zu leugnen, dass die Gedenkfeiern vorgeben, mehr zu sein als nur Erinnerung an die Opfer. Der gängigste Satz ist: „Wir müssen uns daran erinnern, damit sowas nie wieder passiert“. Nie wieder! Soll das der eigentliche Grund für das Gedenken sein? Unsere eigene Geschichte soll als Lektion dienen, damit sich diese Verbrechen nie mehr wiederholen?

Ich wage zu behaupten, dass man nicht die Nazis nicht gebraucht hätte, um zu wissen, dass es falsch ist, Menschen millionenfach zu vergasen. Viele Völker haben diese Erfahrung nicht gemacht, ohne deshalb „holocaust-gefährdet“ zu sein. Wenn es also nicht bloß darum geht, Massenmord moralisch zu verurteilen, worum geht es dann? Der Massenmord in Auschwitz hatte ein klares Motiv: Den Hass auf Juden. Deswegen haben die Gedenkfeiern den Anspruch, Antisemitismus ganz besonders zu verurteilen. Aber so richtig hat das nicht funktioniert. Stattdessen scheinen nun viele zu glauben, Antisemitismus beginne erst mit 6 Millionen Toten (oder, um es weniger zynisch auszudrücken, mit dem Mord an einem Juden). (more…)

Tradition und Kommerz

Januar 25, 2015

Wird der Fußball durch den Kommerz kaputt gemacht?

In letzter Zeit steht die Stadt Leipzig im Mittelpunkt der deutschen Medien und macht auch international Schlagzeilen. Deswegen dachte ich mir, ich berichte auch mal über wichtige Ereignisse aus der Stadt. Selbstverständlich meine ich damit den neuen Fußballverein Red Bull Leipzig. Der ist momentan in der zweiten Bundesliga auf dem siebten Platz, vier Punkte von einem Relegationsplatz entfernt. Für eine Stadt mit mehr als einer halben Million Einwohnern, die seit 25 Jahren ohne Erstligapräsenz ist, eigentlich eine gute Nachricht. Zumal die „traditionellen“ Leipziger Fußballvereine Lok und Chemie zuvor nur durch sportliche Talfahrten, Schuldenbergen, leeren Stadien, Hooligan-Gewalt und Neonazis auffielen.

Es gibt jedoch ein Problem: Red Bull Leipzig ist ein „Retortenverein“, d.h., nur dazu gegründet, um Geld zu machen. So sehen es zumindest die zahlreichen Kritiker des Projekts. Der Verein sei „zum Kotzen“, „Wettbewerbsverzerrung“, ein „Retortenverein“ und würde „den Fußball zerstören“. Sogar die Ostklubs haben sich von RB Leipzig distanziert, obwohl er der einzige Verein aus der ehemaligen DDR ist, der eine Chance hat, in der Bundesliga zu spielen. Man kann schon jetzt davon ausgehen, dass RB Leipzig in der Bundesliga der meistgehasste Verein sein wird. Der Hass ist so groß, dass es in vielen Stadien Fan-Choreos gegen den Verein gibt und sogar die Tagesschau sich nach einem Shitstorm für ein Lob für RB Leipzig entschuldigen musste.

Nun ist es jedem selbst überlassen, was er von RB Leipzig hält, und alleinige Sache der Bundesliga, wie sie mit dem Verein umgehen. Es ist für mich jedoch völlig irrational, RB Leipzig so sehr zu hassen wie es die sogenannten Fans der „Traditionsvereine“ tun. Unter Traditionsverein scheinen sie eine kleine, exklusive Gruppe zu verstehen, in die man nicht mehr hineinkommt, egal was man tut. Leipzig, Hoffenheim, Wolfsburg oder Leverkusen haben also keinen Eintritt, dafür aber jeder noch so sportlich abgestürzte Verein, der 100 Jahre alt ist, gewalttätige Fans hat und nur mithilfe von Steuergeld vor der Insolvenz bewahrt werden konnte. Denn RB Leipzig und co. machen etwas Unverzeihliches: Sie investieren Geld in einen Verein, und haben damit Erfolg. Ein Skandal. (more…)

Die Mythen der Umverteiler

Januar 20, 2015
Eine arme Arbeiterfamilie in Hamburg, 1902

Deutschlands Zukunft?

Schon wieder hat eine Studie das bewiesen, was und die Umverteiler seit Jahren predigen: Die Armen werden immer ärmer und die Reichen werden immer reicher. In Deutschland gehören diese Sätze zu den absoluten Grundzügen jeder politischen Diskussion: „Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander“. Und schuld daran ist der „entfesselte Neoliberalismus“ von Thatcher, Reagan und Schröder mit ihren Steuersenkungen, Privatisierungen, Deregulierungen und Abbau von Arbeiterrechten. Was wir deshalb dringend brauchen, sind Bekämpfung von Steuerhinterziehung, Steuererhöhungen, bessere öffentliche Dienstleistungen und Mindestlöhne.

Aber hat die Studie Recht? Zweifel sind angebracht. Und selbst wenn die Ungleichheit gestiegen wäre, ist es die Armut definitiv nicht: Der Anteil der Menschen, die in absoluter Armut leben, hat sich in den letzten 20 Jahren halbiert. Nicht nur am Einkommen gemessen, sondern auch am Lebensstandard. Aber schauen wir mal nicht auf die Dritte Welt, sondern auf Deutschland. Hier wird ja, weitgehend widerspruchslos, genau dasselbe behauptet. Die gute Lage Deutschlands in Europa sei eine Lüge, eigentlich hätte sich in den letzten Jahren nichts verbessert. Aber stimmt das? Nimmt die Armut zu? Nimmt die Ungleichheit zu? Nimmt der Staat immer weniger Steuern ein? Schauen wir es uns mal genauer an.

1. Die Armut nimmt immer weiter zu.

Nein. Die Armutsstatistiken messen erstens nicht wirkliche Armut, sondern nur relative Armut. Demnach gilt man als arm, wenn man weniger als 50% und als „armutsgefährdet“, wenn man weniger als 60% des Durchschnittseinkommens hat. Gemäß diesen Messungen leben in Deutschland mehr Arme als in Ungarn oder Griechenland. Zweitens besagen selbst diese Statistiken nicht, dass die Armut wächst. Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) stieg die Armut zwischen 1999 und 2004, ab 2005 ist sie auf gleichbleibendem Niveau. Auch die jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamts besagen, der Anteil der Armen sei seit Einführung der EU-weiten Erhebung 2008 „relativ stabil“. (more…)

Fundamentalisten der Meinungsfreiheit

Januar 15, 2015
Bekam eine Todes-Fatwa: Salman Rushdie

Einer der Pioniere des Meinungsfreiheits-Fundamentalismus: Salman Rushdie

Es gab viele schlechte Reaktionen nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo. Da gab es die Leute, die sich als Erstes Sorgen um den Ruf des Islams und der Muslime machten, was in etwa so wäre, als würde man sich nach einem Neonazi-Anschlag als Erstes Sorgen um den Ruf Deutschlands machen. Die französischen Rechten um Le Pen instrumentalisierten den Anschlag für ihre Agenda. Es gab die Verschwörungstheoretiker, die sofort „Cui bono?“ fragten. Schließlich meinten einige, der Anschlag würde zeigen, dass wir strengere Waffengesetze (das sagte z.B. Liam Neeson – als ob sich Kriminelle um Waffengesetze kümmern) oder ein liberales Waffenrecht (das sagte z.B. Donald Trump – als ob es dann in jeder Redaktion Waffen gäbe) benötigen.

Die schlechteste Reaktion war für mich die „Aber“-Fraktion. Man hörte es immer wieder: Die Morde seien schlimm, keine Frage, doch dann folgte ein „Aber“: Aber die Zeitschrift sei zu weit gegangen, man solle Meinungsfreiheit nicht zu weit auslegen, auch Worte können verletzen, usw. Der Papst meinte heute, Meinungsfreiheit ende dort, wo religiöse Gefühle verletzt werden. Ein typischer Kommentar kam von Mehdi Hasan, der in der britischen Huffington Post zu einem Rundumschlag ausholte. Seiner Meinung nach ging es beim Anschlag gar nicht um Meinungsfreiheit, es war lediglich ein „Verbrechen von unzufriedenen Jugendlichen“. Der Westen sei heuchlerisch, wenn es um Meinungsfreiheit geht, und „als Muslim“ würde er von diesen Heuchlern „die Nase voll haben“.

Die vermeintlichen Heuchler nennt er „Fundamentalisten der Meinungsfreiheit“. Witze über den Islam seien in Ordnung, während Witze über den Holocaust und 9/11 als geschmacklos gelten. Er bemängelt, dass – aufgepasst, das ist ernst gemeint – die Muslime „mehr ertragen müssten als Christen und Juden“. Charlie Hebdo sei eine rassistische Zeitschrift, mit der man sich nicht solidarisieren sollte. Außerdem würden die selbsterklärten „Kämpfer für die Meinungsfreiheit“ wie Obama, Merkel und Cameron die Meinungsfreiheit in ihren Ländern einschränken. Der ganze Artikel ist eine Anklage an den Westen und eine Forderung nach mehr Rücksicht für die Gefühle der Muslime – als wäre das die Lektion aus dem Terroranschlag. (more…)

Die Meinungsfreiheit lebt

Januar 10, 2015

Du weißt, dass deine Kunst andere Menschen erreicht hat, wenn du dafür umgebracht wirst. Die Zeichner der Charlie Hebdo-Karikaturen wäre diese Erfahrung sicher lieber erspart geblieben. Einige Karikaturen waren wirklich witzig:

Ich weiß, für viele Menschen ist dieser Terroranschlag jetzt sowas wie das „Ende der Meinungsfreiheit“. Niemand wird es mehr wagen, den Islam zu kritisieren oder Witze über ihn zu machen (für Islamisten besteht da ja kein Unterschied), wenn er dafür ermordet werden kann. Tatsächlich sehe ich diesen Punkt anders. Und zwar aufgrund der Reaktionen, die auf den Anschlag folgten. Vergleichen wir sie mal mit den Reaktionen auf die Mohamed-Karikaturen von Jyllands Posten im Jahr 2006. Damals wurden die Karikaturen fast genauso schlimm verdammt wie die Gewalt, die auf sie folgte. Jacques Chirac, Günter Grass und sogar Harald Schmidt verurteilten die Karikaturen und kaum eine Zeitung wagte es, sie zu zeigen.

Diesmal ist es anders. Keiner zeigt Verständnis für die Gewalt, fast keine öffentliche Person kritisierte die Karikaturen, keiner sagt, die Gewalt ist „eine fundamentalistische Antwort auf eine fundamentalistische Tat“ oder zog, wie Franz Kühn, Vergleiche zu Stürmer-Karikaturen, und vor allem: Viele europäische Zeitungen zeigten die Karikaturen. Es gab keine Selbstzensur. Natürlich gab es auch viele schlechte Reaktionen – gerade die „Jetzt müssen wir den Islam besonders in Schutz nehmen“-Fraktion – doch die einhellige Meinung in allen Kreisen war: Meinungsfreiheit ist wichtiger als der Schutz religiöser Gefühle. Diese Welle der Solidarität hätten sich die Herausgeber von Jyllands Posten vor 9 Jahren wohl auch gewünscht („Jeg er Jyllands!“ – „Ich bin Jyllands!“). (more…)

Besser Fahren

Januar 5, 2015
Wer soll die Straßen bauen, wenn nicht der Staat?

Sicherer und schneller – aber wie?

Normalerweise sollte jeder Eigentümer entscheiden, welche Regeln auf seinem Gebiet gelten. Wenn sich der Staat jedoch zum Eigentümer erklärt, wird aus den Regeln, die gelten sollen, eine gesellschaftliche Angelegenheit, über die in Parlamenten entschieden wird. Natürlich könnte der Staat auch in öffentlichen Plätzen bestimmen, dass die Leute vor Ort festlegen, welche Regeln gelten, aber das geschieht in den seltensten Fällen. Wenn über ein Burka-Verbot an Schulen diskutiert wird, kommt niemand auf die Idee, die Schulen selbst entscheiden zu lassen – entweder das Verbot gilt im ganzen Bundesland oder gar nicht. Somit ist auch die Regulierung von Straßen eine öffentliche Angelegenheit.

Immerhin hat das nicht nur Schlechtes zur Folge: Deutschland ist eines der wenigen Länder, die kein generelles Tempolimit auf Autobahnen haben. Das ist einer der bekannten Details über dieses Land, neben Bratwurst, Hitler und Fußball. Allerdings ist dennoch in keinem Land der Straßenverkehr so durchreguliert: Es gibt über 20 Millionen Schilder, das ist weltweit Spitze, und allein schon den Führerschein zu bekommen ist so schwer wie in kaum einem anderen Land. Nun werden Stimmen laut, noch mehr zu regulieren: Es soll ein Tempolimit auf den Autobahnen eingeführt werden, um damit mehr Sicherheit für die Fahrer zu schaffen und Tom Hanks einen Grund weniger zu geben, Deutschland zu besuchen.

Das Argument, ein Tempolimit würde zu mehr Sicherheit für die Fahrer führen, ist dabei empirisch widerlegbar. Länder mit Tempolimit haben nicht weniger Verkehrsopfer als Deutschland, das in der EU auf dem achten Platz liegt. Die Zahl der Verkehrsopfer ist auf Autobahnen sowieso niedriger als in anderen Straßen (und die Zahlen sind auf allen Straßen seit Jahren rückläufig). Die dumpfe Regulierungswut macht aber auf den Straßen keinen Halt, wie sich – trotz der Ausnahme auf den Autobahnen – im deutschen Schilderwald zeigt. Es geht aber auch anders, wie die Stadt Bohmte in Niedersachsen zeigt. Hier hat sich ein revolutionäres Konzept durchgesetzt: Shared Space. Alle Schilder sind weg, der Verkehr reguliert sich selbst. (more…)