Politikverdrossenheit – Ein Problem?

Der Bürger entscheidet!

Es ist ein Evergreen: Die Bürger wenden sich von der Politik ab. Eine Umfrage vom April zeigte, dass 80% der Bürger der Ansicht sind, ihre gewählten Politiker würden nicht genug tun, um sich über ihre Sorgen und Interessen zu informieren. Die Wahlbeteiligung sank seit 1982 stetig und erreichte 2009 ein Rekordtief, bevor es 2013 wieder ein bisschen bergauf ging. Natürlich wollen die Politiker etwas gegen die Politikverdrossenheit tun. Und wie! Politik soll für die Bürger wieder interessant werden, heißt es, man will „die Bürger abholen“. Von totalitären Maßnahmen wie einer Wahlpflicht wird zwar (noch) abgesehen, doch irgendeine Kampagne wird sicher gestartet werden.

Sind niedrige Wahlbeteiligungen wirklich so schlimm wie die Politiker behaupten? Einige meinen, es sei gar nicht so schlimm, wenn die Wahlbeteiligung niedrig ist, immerhin würde das bedeuten, die Bürger hätten genug Vertrauen in die Stabilität der Demokratie, keine Angst vor einer Diktatur und würden es deshalb nicht so extrem wichtig finden, sich für Politik zu interessieren. In der Schweiz oder den USA ist die Wahlbeteiligung traditionell niedrig (50-60%), während hochpolitisierte Länder oft große Krisen durchmachen. Das Problem an dieser Betrachtung ist: Sie ist nicht wahr. Tatsächlich interessieren sich Nichtwähler zumindest in Deutschland sehr wohl für Politik und gehen aus Unzufriedenheit nicht zur Wahl, nicht aus Gleichgültigkeit.

Ob ein Wahlboykott sinnvoll ist, darüber gibt es polarisierende Positionen. Die einen sagen: Wählen ist eine staatsbürgerliche Pflicht, Nicht-Wähler stärken radikale Parteien und wer nicht wählt, soll sich später nicht beschweren. Die anderen sind sich sicher: Wahlen ändern nichts, Wähler sind dumm, Wählen ist Zeitverschwendung. Beide Positionen stellen den Sachverhalt zu verkürzt dar, und das Einschimpfen auf den Anderen ist völlig unnötig. Es kann für beide Entscheidungen – Wählen und Nicht-Wählen – gute Gründe geben, die nichts mit Ignoranz zu tun haben. Außerdem ist die Wahlbeteiligung am Ende gar nicht so wichtig wie viele annehmen.

Es gibt gute Gründe, nicht wählen zu gehen. Wer sich nicht für Politik interessiert, tut gut daran, nicht wählen zu gehen, sowie man auch sonst nichts tun sollte, wovon man keine Ahnung hat. Wer keine medizinischen Fachkenntnisse hat, sollte keine komplizierten medizinischen Ratschläge geben. Es ist auch nicht verwerflich, apolitisch zu sein. Man hat ein Recht, sich nicht für Politik zu interessieren. Auch wer sich durch keine Partei vertreten fühlt und keine Partei als „kleineres Übel“ ansieht, kann keinen guten Grund vorweisen, wählen zu gehen (besonders absurd ist der Rat, dann als Zeichen des Protests eine ungültige Stimme abzugeben: Ungültige Stimmen landen nicht im Bundestag und haben damit genauso viel Einfluss wie keine Stimme).

Wählen zur staatsbürgerlichen Pflicht zu deklarieren, weil Menschen in der Vergangenheit für das Recht zu wählen gestorben sind, ist in etwa so klug wie es zur staatsbürgerlichen Pflicht zu erklären, eine Religion zu haben, weil Menschen in der Vergangenheit für das Recht auf Religionsfreiheit gestorben sind (und eine Sache ist nicht allein deshalb gut, weil Menschen ihr Leben dafür opfern, man denke z.B. an islamistische Selbstmordattentäter). Die Behauptung, Nicht-Wähler würden radikale Parteien stärken, ist eine dieser Phrasen, die geglaubt werden, weil sie immer wiederholt werden, nicht, weil sie durch Fakten untermauert sind. Radikale Parteien sind in den letzten Jahrzehnten in Deutschland trotz sinkender Wahlbeteiligung nicht stärker geworden.

Besonders infam ist der Spruch, Nicht-Wähler dürften sich nicht beschweren. Auf die Spitze getrieben hätte man dann einem Nicht-Wähler, der 1933 im KZ gelandet wäre, sagen können: „Selber schuld! Du hättest ja bei der letzten Wahl gegen die Nazis stimmen können!“. In unserer Zeit gibt es zwar keine so großen Übel wie im KZ zu landen, aber politische Entscheidungen können noch immer sehr viel Schäden für Menschen anrichten – und jeder hat ein Recht, sich darüber zu beschweren, egal ob er gewählt hat oder nicht. Das trifft vor allem dann zu, wenn man durch zivilen Aktivismus mehr erreichen kann als mit einem Kreuz am Wahltag (was so gut wie immer der Fall ist).

Die guten Gründe, die es gibt, wählen zu gehen, sind natürlich noch leichter auszumachen. Wahlen können – selbst wenn politikverdrossene Nicht-Wähler es nicht wahrhaben wollen – sehr wohl was ändern. Leider gilt das „ändern“ nicht ausschließlich für Positives, es kann sich also auch auf Negatives beziehen. Da die Politik in Demokratien meist von Sozialdemokraten und Konservative dominiert wird, sind „positive Änderungen“ meistens auch nur aus sozialdemokratischer und konservativer Sicht gut, während sie für die politischen Gegner schlecht sind. In den meisten Fällen geht es nur um Umverteilung oder Bevormundung, dies ist für Liberale dann immer schlecht.

Aber auch wenn man liberal ist, kann man gute Gründe haben, um wählen zu gehen. Denn jeder Schritt zur Freiheit ist zu begrüßen. Eine Wahl ändert sicher nichts zum Perfekten hin, doch es ist möglich, dass sich etwas zum Besseren hin ändert. In Großbritannien hat Thatcher während ihrer Amtszeit viele liberale Reformen gemacht, die das Land vor dem Abgrund retteten, in den USA übernahm Reagan die Rolle des Steuersenkers und Deregulierers. All ihre Reformen brachten kein liberales Utopia, aber sie brachten auf jeden Fall positive Änderungen. Politiker können also manchmal auch aus liberaler Sicht etwas zum Besseren hin bewegen.

Die Frage, ob Politikverdrossenheit ein Problem ist oder nicht, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Das Wichtige ist, welche Politik die Politik-Interessierten durchsetzen. Die Wahlbeteiligung korreliert nicht mit Freiheit und Wohlstand. Niedrige Wahlbeteiligung gibt es in reichen (Schweiz, zuletzt 48%) und armen Ländern (Ägypten, 38%), hohe Wahlbeteiligung gibt es in reichen (Luxemburg, 91%) und armen Ländern (Venezuela, 78%). Wichtig ist nur die Qualität der Politik – und die ist unabhängig von der Wahlbeteiligung. Es ist kein Erfolg, wenn ein Nicht-Wähler sich plötzlich für Politik interessiert und dann die NPD wählt. Die Phrase „Egal, für wen sie sich entscheiden, gehen sie wählen, verschenken sie ihre Stimme nicht!“ klingt nett, aber es ist eben nicht egal, wenn man wählt.

Wie sehe ich meine Position? Ich erwarte für die Zukunft in Deutschland kaum liberale Politik. Eine Thatcher oder ein Reagan sind nicht in Sicht, stattdessen scheint sich die Große Koalition ein Beispiel an Frankreich nehmen zu wollen. Dennoch bin ich optimistisch. Warum? Weil die wichtigsten Änderungen nicht von der Politik kommen. Es gibt so viele Innovationen, die unser Leben radikal verbessern werden: 3D-Drucker, künstliches Fleisch, intelligente Roboter und vieles mehr. Der visionäre Unternehmer Elon Musk tüftelt derzeit u.a. an einer Hausbatterie und an Raumschiffen, um den Mars zu kolonisieren. Politikverdrossenheit und Optimismus für die Zukunft muss überhaupt kein Widerspruch sein. Egal wieviel Mist die Politiker bauen werden, wir haben immer noch Elon Musk.

6 Antworten to “Politikverdrossenheit – Ein Problem?”

  1. Paul Says:

    Lieber arprin,
    zu mindestens mich haben Sie noch mal zum nachdenken gebracht.
    Wirklich zum nach denken, in des Wortes ursprünglicher Bedeutung, weil meine Meinung, „Verdammung“ der Nichtwähler schon ziemlich gefestigt war.

    Ursächlich dafür ist meine DDR-Vergangenheit. Dort war Nichtwählen eine sogar ziemlich wirkungsvolle, weil die Machthaber störende, Form des Protestes.
    An einer Freien Wahl nicht teilnehmen zu wollen erschien mir unvorstellbar. Auch das hat sich durch Sie geändert.
    Trotzdem werde ich auch weiterhin wählen gehen, weil die Wahl eine für mich lange entbehrte Errungenschaft ist und an Freiheit gekoppelt ist. Auch an meine ganz persönliche.
    Warum sollte ich freiwillig diese Freiheit aufgeben?
    Ihr Verdienst ist es, dass ich die Nichtwähler jetzt etwas verständnisvoller beurteile.

    Herzlich, Paul

  2. Paul Says:

    Nachtrag:
    Ich bin nicht Politikverdrossen.
    Auch nicht Politikerverdrossen.
    Meine Verdrossenheit betrifft das Wahlsystem.
    Aber bin ich damit alleine?
    Kann es nicht sein, dass die Wahverweigerung auch dadurch verursacht wird?
    Aber das ist schon wieder ein anders Thema.

    Herzlich, Paul

    • Krischan Says:

      Lieber Paul,
      das verstehe ich nicht – Sie finden sich wieder in den Aussagen einiger Politiker, vielleicht sogar teilweise in Parteien, für Politik interessieren Sie sich auch; allein das Wahlsystem macht Ihnen Probleme? Welches? Bundestagswahl ist doch einfach – Partei wählen (Zweitstimme), Person wählen (Erststimme). Kommunalwahl ist, für den gelernten Ossi, doch noch viel demokratischer, da kann ich mein Stimmenkontingent auf mehrere Kandidaten verteilen.

      Ich habe noch nie verstanden, warum jemand mit dem bundesdeutschen Wahlsystem Probleme hat. Es ist keine Raketenwissenschaft! Und man muss sich auch nicht registrieren, in Wählerlisten eintragen lassen etc. Sehr komfortabel.

      Oder meinen Sie mit Wahlsystem etwas anderes?

      Freundlichst,
      Krischan

  3. Anonym Says:

    Zitat aus dem Artikel:
    „Tatsächlich interessieren sich Nichtwähler zumindest in Deutschland sehr wohl für Politik und gehen aus Unzufriedenheit nicht zur Wahl, nicht aus Gleichgültigkeit.“

    Das stimmt allerdings. Meine positiven Argumente dafür, nicht zu wahl zu gehen, rechtfertigen eigentlich auch eher den unpolitischen Typen oder jemanden, der sich angewidert von der Politik abwendet und damit nichts mehr zu tun haben will.

    Jemand, der die derzeitige Poltik nicht mag, soll bitte eine eigene Partei aufmachen und wenigstens versuchen etwas zu ändern. Aber halt!
    Ganz so einfach ist es denn doch nicht, die Vergangenheit zeigt uns, dass neue Parteien unter deutschen Bedienungen die Tendenz haben, von radikalen Kräften und sonstigen Spinnern untergraben zu werden. Soweit ich weiß, ist es für eine Partei auch gar nicht so einfach, sich von solchen unwillkommenen Mitgliedern wieder zu verabschieden und spätestens wenn Delegierte zur Versammlung geschickt werden, können die die Partei übernehmen.
    Die andere Alternative, Mitglieder sozusagen Handzuverlesen sit naheliegenderweise auch keine Alternative.

    Zitat aus dem Artikel:
    „Wählen ist eine staatsbürgerliche Pflicht, Nicht-Wähler stärken radikale Parteien und wer nicht wählt, soll sich später nicht beschweren.“

    Das halte ich doch für ziemlich weit hergeholt. Die einzelne Stimme hat nun einmal kein sehr großes Gewicht.
    Entscheidungstheoretisch – das haben kluge Leute mal durchgerechnet – macht es auch tatsächlich wenig sinn. Wählen zu gehen hat eher andere Bedeutung.

  4. libertylauch Says:

    „Es ist auch nicht verwerflich, apolitisch zu sein. Man hat ein Recht, sich nicht für Politik zu interessieren.“ Die Begründung finde ich etwas schwach. Natürlich hat man das Recht. Nur macht es das nicht automatisch „nicht-verwerflich“.
    Auch die Sache mit dem Stärken der radikalen Parteien hast Du nur halbrichtig dargestellt. Nichtwähler stärken alle Parteien, da jede Stimme mehr gewichtet wird. Dies wirkt sich bei sehr kleinen Parteien allerdings mehr aus. Ist im Grunde zwar vernachlässigbar doch faktisch eben nicht ganz falsch.
    Ob Reagan der ganz große Deregulierer war, weiß ich allerdings nicht. Man liest häufig von vielen protektionistischen Reformen, wie die Anteile da allerdings wirklich sind, keine Ahnung.
    Ansonsten gut =)

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