Archive for the ‘Liberalismus’ Category

Keine Angst vor Big Tech

Januar 15, 2021

Ist Big Tech zu mächtig?

„Wenn Unternehmen zu mächtig werden, müssen sie vom Staat reguliert werden.“ Dieser Satz war bis vor kurzem ein Kernstück linker Ideologie. Damit wurden Pläne für massive Regulierungen oder gar Verstaatlichungen von Großkonzernen begründet. Nun hört man diesen Satz aber vor allem von Konservativen und sogar von einigen Liberalen. Es geht dabei um die großen Tech-Konzerne Facebook, Twitter, Google, Apple und Amazon, die Donald Trumps Accounts in den sozialen Medien und mit Parler ein soziales Medium, indem sich viele seiner Anhänger austauschten, gelöscht haben.

Konservative haben in früheren Fällen die Vertragsfreiheit verteidigt, z.B. wenn es um das Recht von Unternehmern ging, keine Fotos oder Torten für Homo-Ehen bereitstellen zu müssen. Dieses Mal sehen sie anders. Aber während sie früher richtig lagen, liegen sie diesmal falsch. Es braucht keine Regulierung der Tech-Konzerne. Die großen Nutzerzahlen der sozialen Medien rechtfertigen es nicht, sie als „öffentliches Gut“ zu behandeln. Anders gesagt: Es gibt kein Menschenrecht auf einen Account bei Facebook oder Twitter (sofern es sich nicht um eine Verletzung der unterschriebenen Nutzungsbedingungen handelt).

Aber würde das nicht zu einem Ende der Meinungsvielfalt in der westlichen Welt führen, wie die Kritiker der Trump-Sperre befürchten? Kurz gesagt: Nein. Es gibt kein Monopol der Tech-Konzerne, das auf Zwang basiert. Niemand ist gezwungen, Facebook oder Twitter zu benutzen. Die große Bedeutung der Tech-Konzerne basiert auf das Verhalten der Nutzer, nicht auf eine vermeintliche Unterdrückung der Alternativen durch die Tech-Konzerne. Das heißt: Wenn wirklich genug Menschen eine Alternative zu Facebook und Twitter haben werden wollen, werden sie auch eine aufbauen können. (more…)

Corona-Lektionen: Freiheit und Despotie vs. Good Governance und Bad Governance

März 19, 2020

Braucht es eine Diktatur gegen die Ausbreitung des Coronavirus?

Noch immer gibt es Leute, die das Coronavirus als „nicht schlimmer als eine Grippe“ bezeichnen, doch ihre Zahl wird immer kleiner. Unabhängig davon hat COVID-19, so die formaljuristische Bezeichnung, innerhalb kürzester Zeit alle wichtigen Themen – Greta, Flüchtlinge, Trump, Fußball – aus den Medien verdrängt (letzteres hat bei mit zu leichten Entzugserscheinungen geführt). Geschlossene Grenzen, Wirtschaft heruntergefahren, Ausgangssperren – die Welt ist nicht mehr dieselbe wie vor einigen Monaten. Die Folgen dieser Entscheidungen werden uns noch Jahre begleiten. Aber einige Lektionen können wir schon heute aus ihnen schließen.

Das Land, das den Ausbruch des Coronavirus anscheinend am besten gemeistert hat, ist China. Die Zahl der offiziell gemeldeten Neuinfektionen und der Todesfälle ist mittlerweile kaum noch relevant. Auch wenn die echten Zahlen größer sein mögen, ist China heute näher an der Rückkehr zur Normalität als am Ausnahmezustand. In Europa dagegen ist man derzeit von einem Rückgang der Neuinfektionen und Todesfälle sowie der Aufhebung der radikalen Maßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung des Virus weit entfernt. Daran wird sich in den nächsten Wochen kaum etwas ändern: Den Höhepunkt der Krise haben wir gemäß der Mehrheit der Virologen noch vor uns.

Eine Frage tut sich da auf: Kann es sein, dass China aufgrund seines autoritären Systems erfolgreicher bei der Bekämpfung des Coronavirus war als Europa mit seinen Bürgerrechten und der Demokratie? Ist das westliche Modell bei der Bekämpfung von Pandemien im Nachteil gegenüber dem chinesischen Modell? Diese Lesart hat sich bei vielen klammheimlich durchgesetzt. Vor allem bei denen in Europa, die noch härtere Maßnahmen beim Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus fordern. Momentan geht es in Europa schon so totalitär zu wie noch nie seit 1945. Können wir noch mehr ertragen? Bevor man sich eine vorübergehende Diktatur wünscht, sollte man die wahren Ergebnisse sehen, die die Diktaturen in der Corona-Pandemie liefern. (more…)

Gegen die Balkanisierung

August 13, 2018

Ein französisches Kind lernt über den Verlust von Elsass-Lothringen, Bild von 1887

Ich bin ein Kritiker des Konzepts der territorialen Integrität. Wenn sich ein Teil eines Landes abspalten will, sollte es das Recht dazu haben, anstatt unter Einsatz von Gewalt darin gehindert zu werden. Die Bedingung dafür ist, dass die Bevölkerung im sich abspaltenden Gebiet das mehrheitlich möchte und der neue Staat nicht dafür benutzt wird, um Minderheiten zu vertreiben, töten oder unter Apartheid zu halten. Wenn das gegeben ist, sollte jede Region der Welt das Recht auf einen eigenen Staat haben, ganz gleich wie klein sie auch ist. Allerdings ist Sezession in vielen Fällen keine dauerhafte Lösung für ethnische Konflikte. Das ist keine neue Erkenntnis, und es ändert nichts an meiner Unterstützung für freiwillige Sezessionen. Aber es bedarf einer Klarifizierung meiner Position zum Thema ethnische Konflikte und Sezession.

Das aktuelle Beispiel dafür ist Bosnien-Herzegowina. Das Land ist nach dem Jugoslawienkrieg unabhängig geworden. Anschließend gab es sich im Friedensvertrag von Dayton eine Verfassung, die das Land in zwei autonome Gebiete gliederte: Der mehrheitlich von Bosniaken bewohnten Föderation Bosnien-Herzegowina und der mehrheitlich von Serben bewohnten Republik Srpska (der offiziell am schwersten auszusprechenden Republik der Welt). Außer den Beziehungen zum Ausland, der Währung und dem Militär ist alles geteilt: Es gibt zwei verschiedene Parlamente, zwei Verfassungen, sogar zwei Fußballverbände. Es sind de facto zwei verschiedene Staaten. Wie zu erwarten, sind die ethnischen Konflikte dadurch nicht gelöst worden. Milorad Dodik, der Präsident der Republik Srpska und Leugner des Massakers von Srebrenica, strebt schon länger ein Unabhängigkeitsreferendum an. Nun bemüht er sich um einen Sitz in der UNO.

Jetzt könnte man sagen: Wenn die Serben in Bosnien sich abspalten wollen, sollten sie es dürfen. Ja, stimmt. Aber das wird nicht das Ende der Geschichte sein. Es gibt eine bosniakische Minderheit in der Republik Srpska, die sich dann unterdrückt fühlen wird, und das Problem ginge dann von vorne los. Selbst wenn man eine hundertprozentige ethnische Reinheit im gesamten Balkan schaffen würde, könnten irgendwann 100 Kroaten nach Albanien ziehen und alles geht von vorne los. Und das ist keineswegs übertrieben: Es gibt nämlich auch Konflikte mit der Minderheit von Serben im Kosovo, Albanern in Mazedonien, usw. Wenn das so weitergeht, wird es im ehemaligen Jugoslawien bald mehr Staaten geben als in Afrika. Anstatt immer sofort auf Sezession zu pochen, sollte deshalb zuerst ein neues Konzept ausprobiert werden. Dieses Konzept hat, soweit ich weiß, noch keinen Namen. Man könnte es „staatliche Neutralität in Identitätsfragen“ nennen. (more…)

Kokolores mit Datenschutz

März 29, 2018

Der Große Bruder

Das Thema Datenschutz ist mal wieder in aller Munde. Nachdem Dorothee Bär Anfang des Monats den Datenschutz als zu stark kritisiert hatte, kam es kurz darauf zum Hype um den vermeintlichen Skandal um Cambrige Analytica („vermeintlich“, weil mir noch nicht ganz klar ist, inwiefern sich der Vorgang vom offiziellen Geschäftsmodell von Facebook unterscheidet, den jedes Facebook-Mitglied bei den Benutzerbedingungen unterschreibt), der den Ruf von Facebook so stark wie noch nie in Mitleidenheit zog. Vor kaum etwas hat man vor allem in Deutschland mehr Angst als Privatunternehmen, die Daten ihrer Kunden stehlen und missbrauchen. Im Mai tritt die neue EU-Datenschutzverordnung in Kraft. Dieses Bürokratie-Monster zeigt das ganze Dilemma der Datenschutz-Debatte: Während man dem Staat das Recht zugesteht, im Namen der sozialen Gerechtigkeit alle Bürger auszuspionieren, sollen Privatunternehmen nicht mal freiwillig Daten mit ihren Kunden austauschen dürfen.

Was „private Bürger“ tun dürfen, …

Jedem Bürger ist es erlaubt, an einem Ort Fotos zu schießen. Das schließt auch ein, dass man Fotos von Straßen, Gebäuden, Wohnhäusern, oder – natürlich sofern der Gastgeber den Besuch erlaubt – Fotos innerhalb von fremden Gebäuden und Wohnungen schießt. Es ist erlaubt, zuzuhören, was Menschen sagen, selbst wenn sie nicht mit dem lauschenden Zuhörer sprechen. Wer zuhört, kann andere von dem Gespräch erzählen, sich Notizen des Gesprächs machen und sogar das Gespräch mit einem Tonband aufnehmen. All diese Dinge darf man erst recht, wenn man ein Teilnehmer des Gesprächs ist und nicht lauschender Zuhörer. Man darf aber nicht nur Gespräche mitverfolgen, man darf sich auch bestimmte Dinge merken, die einem ins Auge fallen, z.B. die Kleidung einer Person, die Einrichtung eines Gebäudes usw.

Unsere Überwachung von anderen Orten, Menschen und Dingen hört aber da nicht auf. Wir können auch Fernsehsendungen verfolgen und sie aufnehmen. Gegebenenfalls können wir diese Aufnahmen ordnen und zu einer Sammlung ausbauen. Wenn wir Fußball schauen, können wir die Statistiken der Spiele und der Spieler sammeln und diese Daten in Datenbanken ordnen. Mit so gewonnenen Daten können wir anderen Menschen unsere Dienste anbieten. Ein Serien-Liebhaber kann TV-Kritiken schreiben, ein Fußball-Liebhaber kann Scout oder Trainer bei Fußballvereinen werden. Es ist also erlaubt, dass Bürger Daten von anderen Orten, Menschen und Dingen sammeln und diese Daten dann kommerziell nutzen (so wie man sie natürlich auch nicht-kommerziell nutzen kann). Im Alltag sind wir wahrscheinlich alle irgendwann mal eifrige Datensammler.

… sollten private Unternehmen auch tun dürfen

Was ist der Unterschied zwischen „privaten“ Bürgern und privaten Unternehmen? Privatunternehmen sind – oder sollten zumindest – keine juristischen Personen sein, denn sie sind letztlich rechtliche Konstrukte und keine Menschen mit Rechten. Aber hinter Unternehmen stecken eben Menschen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, warum Menschen im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit andere Rechte bezüglich des Sammelns von Daten haben sollten als Menschen in „Privatmission“. Deshalb sollte gelten: Fotos von öffentlichen Plätzen schießen, Gesprächen in öffentlichen Orten oder Internet-Plattformen zuzuhören oder zu speichern, Daten von Ereignissen sammeln und ganze Datenbanken anzulegen, die man kommerziell (und natürlich auch nicht-kommerziell) nutzen kann, sollten Privatunternehmen erlaubt sein. (more…)

Zustimmung als entscheidender Faktor

November 15, 2017
Die Traumfabrik produziert auch mal Blödsinn

Ist Hollywood noch zu retten?

Das Thema sexuelle Belästigung steht nach den Enthüllungen der Skandale um Harvey Weinstein, Kevin Spacey und einer immer größer werdenden Zahl von Hollywood-Lichtgestalten mal wieder ganz vorne auf der Agenda. In den Talkshows wird debattiert, wie sexistisch unsere Gesellschaft ist, in den sozialen Medien werden Hashtags entfacht, Feministen fordern strenge Maßnahmen für den Kampf gegen das Patriarchat. Dabei wird leider vieles fälschlicherweise in einen Topf geworfen. Für viele Feministen gilt: Sexuelle Belästigung ist alles, was das Opfer als Belästigung empfindet. Konservative Kritiker kontern: Viele vermeintliche Fälle von sexueller Belästigung sind normale, „klassische“ Annäherungsversuche zwischen Mann und Frau, während viele als „normal“ empfundene Darstellungen von Sexualität abartig sind und aus Jugendschutzgründen verboten werden sollten.

Eins wird dadurch klar: Es gibt keine allgemeingültige Definition von sexueller Belästigung. Die Feministen – oder besser gesagt: die modernen, 100% linken Feministen – sehen alles unter der Brille ihrer „Unterdrücker-Unterdrückte“-Weltsicht. Jemand, der irgendwie als „Unterdrückter“ bzw. „Opfer“ gilt, hat immer Recht. Wenn er sagt, er empfand es als Belästigung, war es Belästigung. Punkt. Die Konservativen sehen dagegen alles unter der Brille von moralischen Werten und Tradition. Deswegen gilt zu viel Freizügigkeit als unanständig, da es zu falschem Verhalten führen kann, hat aber nichts gegen traditionelle, „altbewährte“ Annäherungstaktiken. Diese beiden Standpunkte bringen keine gemeinsame Definition von sexueller Belästigung hervor. Zwar dürfte man sich in den extremsten Punkten einig sein, doch darunter herrscht viel Uneinigkeit.

In meinen Augen haben sowohl Linke als auch Konservative in der Debatte teilweise Recht, teilweise liegen sie total falsch. Es ist völlig absurd, zu glauben, etwas sei automatisch sexuelle Belästigung, wenn jemand es so empfindet. In dem Fall gäbe es keine objektive Definition, und alles wäre eine Glücksfrage. Eine Frau würde ein Lob von einem ihr als attraktiv empfundenen Mann durchgehen lassen, bei einem ihr als unattraktiv empfundenen Mann aber als Belästigung ausgeben können. Es ist aber auch absurd, zu glauben, Musikvideos von Lady Gaga seien „genauso schlimm“ wie einer Frau in die Geschlechtsteile zu fassen, sowie es viele Konservative sagten, als Trump mit seinen (vermeintlichen) Muschi-Erfahrungen prahlte. Es gibt eine viel bessere Definition davon, was Belästigung ist: Die Frage, ob es die freiwillige Zustimmung der Beteiligten gab. Das ist die liberale Definition.

Diese Definition ist auf alle möglichen Fälle anwendbar. Vom Zuzwinkern und Loben bis zum Grapschen und Küssen. Auf den ersten Blick erscheint sie aber nicht immer hilfreich. Die zwischenmenschlichen Kontakte laufen nicht so ab, dass man immer vorher fragt, ob man etwas Gewagtes tun darf. Wahrscheinlich fragen die meisten nicht vorher nach, ob sie jemanden wegen ihres Aussehens loben dürfen, oder ob ein Kuss erlaubt ist. Aber die liberale Definition kann auch hier benutzt werden, wenn zwei Dinge miteinbezogen werden: Kontext und Kommunikation. In einer gewohnten sozialen Begegnung wissen die Beteiligten in der Regel, wie man sich zu verhalten hat. Falls das in einer Begegnung nicht der Fall ist, kann es im Falle eines Missverständnisses einmalig kommuniziert werden. (more…)

Spektakel in Barcelona

September 10, 2017

Die katalanische Flagge (Bild: Martorell)

Oft passiert es, dass man sich nicht vorstellen kann, dass etwas wahr wird, bevor es tatsächlich vor den eigenen Augen geschieht. Niemand hätte gedacht, dass die Berliner Mauer fällt, bevor es wahr wurde. Niemand hätte gedacht, dass der Aufstand in Tunesien die ganze arabische Welt anstecken würde, bevor es wahr wurde. Niemand hätte gedacht, dass Donald Trump US-Präsident wird, bevor es wahr wurde. Nun stehen wir vor einem anderen Ereignis dieser Sorte. Seit Jahrzehnten träumen die Katalanen von der Unabhängigkeit, und seit Jahrzehnten verläuft das Vorhaben negativ. Aber in drei Wochen kann es wahr werden: Katalonien wird unabhängig.

Die katalonische Regionalregierung ist so entschlossen wie nie, und die spanische Zentralregierung ist so besorgt wie nie. Für den 1. Oktober ist ein Referendum angekündigt, falls die Mehrheit sich für die Unabhängigkeit ausspricht, soll am 3. Oktober die Unabhängigkeit Kataloniens ausgerufen werden. Alle Versuche der Madrider Regierung, das Vorhaben zu stoppen, sind – bis jetzt – gescheitert, so dass die Verteidigungsministerin sogar angedeutet hat, notfalls das Militär nach Katalonien zu schicken. Welche Folgen könnte ein „Ja“ der Katalanen haben? Wie wird sich Katalonien entwickeln? Wie wird die EU reagieren? Wie werden andere mit Sezession sympathisierende Völker das Referendum aufnehmen? Und was passiert mit dem FC Barcelona? Alles der Reihe nach.

Wäre ein unabhängiges Katalonien ein Plus für die Freiheit?

Möglich, aber nicht gewiss. Die erst vor zwei Jahren gegründete politische Bewegung für die Unabhängigkeit, Junts pel Si, hat als Programm wenig mehr als die Unabhängigkeit. Die zweitpopulärste Partei, CPU, ist sozialistisch und grün und fordert u.a. kostenloses Wohnen, Strom und Wasser sowie ein garantiertes Mindesteinkommen für alle und die Verstaatlichung der Banken. Ob die praktische Politik des spanischen Zentralstaates aber das kleinere Übel wäre als das eines unabhängigen Kataloniens, darf bezweifelt werden (vor allem, wenn die linksextreme Podemos in Madrid an Einfluss gewinnen sollte). Immerhin: Katalonien ist die wohlhabendste Region Spaniens, ist also nicht von Subventionen abhängig, und Dezentralisierung bietet immer eine große Chance für mehr Freiheiten für die Bürger.

Werden Spanien und die EU ein unabhängiges Katalonien zulassen?

Spanien ist ein demokratisches Land, es ist daher sehr unwahrscheinlich, dass es wirklich zum Bürgerkrieg kommt. Wahrscheinlicher ist, dass sie Katalonien in einen langen, juristischen Kampf verwickeln, in der Hoffnung, dass sie irgendwann entnervt aufgeben. Die EU dürfte sich auf die Seite Spaniens stellen und die Katalanen mit derselben Abstrafung drohen wie den Briten. Für die EU wäre ein „Ja“ der Katalanen vor allem symbolisch ein schwerer Rückschlag: Brüssel wünscht sich immer mehr Zentralisierung, das Auseinanderdriften eines Mitgliedslandes wäre ein großes „Fuck you“ für diese Ambitionen, sowie der Brexit oder die Haltung der Visegrad-Staaten zur Flüchtlingsumverteilung. Letztlich müssten sie aber die Unabhängigkeit Kataloniens akzeptieren, wenn diese bis zum bitteren Schluss dafür kämpfen. (more…)

Das (fast) perfekte Land

September 11, 2016
Machen wir ein Estland, machen wir zwei Estland ...

Machen wir ein Estland, machen wir zwei Estland, …

Wie oft hört man den Spruch „Wenn’s dir hier nicht gefällt, dann geh‘ doch rüber!“ Aber dabei besteht immer das Problem, dass es entweder kein Land gibt, in dem es wirklich besser läuft, oder dass man zu sehr an seinem Umfeld hängt, um den Mut zu haben, wegzukommen, bevor man mitkommen muss. Trotzdem kann man sich fragen: Wohin, wenn man gehen will? Welches Land ist perfekt? In linken Kreisen gilt Skandinavien als das perfekte Land. Dort gibt es alles für alle kostenlos: Bildung, Gesundheitsversorgung, Mütter-Auszeit, Asyl, alles. Es ist so kostenlos, dass man nur 50-60% seines Einkommens an den Staat abgeben muss. So gesehen, ziemlich perfekt. Außer wenn man jemand ist, der sein Egoismus über soziale Gerechtigkeit stellt, sowie ich.

Was kommt für mich in Frage? Viele liberale Genossen preisen vor allem kleine Länder an, indem es wenig Regulierung gibt. Allerdings sollte das Gesamtpaket stimmen, und das ist nicht bei allen wenig regulierten Kleinstaaten der Fall. Monaco? Zu klein. Dubai? Zu islamisch. Hongkong? Zu eng. Singapur? Zu autoritär. Man wünscht sich ein Land, indem nicht nur die Wirtschaft frei ist, sondern man auch genug Platz hat und frei von religiösen Sittenwächtern ist. Leider sind solche Orte rar gesät. Aber es gibt noch immer Ausreiseziele, die sich lohnen. Eines davon liegt tatsächlich nördlich von Deutschland. Es ist nicht Skandinavien, aber in der Nähe: Estland.

Hier sind fünf Gründe, die für mich als liberalen, atheistischen, internet-affinen Waffenliebhaber und Kosmopolit für eine Auswanderung nach Estland sprechen:

1. Keine soziale Gerechtigkeit

Estland ging nach seiner Unabhängigkeit einen radikalen Weg: Es gab der freien Marktwirtschaft eine Chance. Die estnische Regierung führte 1994 eine Flat-Tax ein, d.h., alle Steuerpflichtigen zahlen denselben Steuersatz. Der aktuelle Satz liegt bei 20%. Unter dem 36 Jahre jungen liberalen Premierminister Taavi Rõivas wurde die Dauer, die man für eine Steuererklärung braucht, von skandalösen fünf Minuten auf drei Minuten gesenkt (immer noch zu viel, aber besser als vorher). Der Beruf des Steuerberaters ist unbekannt. Außerdem ist das Land sehr freundlich für Start-Ups: Ein Unternehmen kann man in 15 Minuten gründen, die 20% Unternehmenssteuer wird nur bei ausgeschütteten Gewinnen fällig (es gibt keine Doppelbesteuerung), und es gibt wenig Regulierungen. Nicht überraschend: Estland ist das Land mit dem niedrigsten Schuldenstand in Europa, der höchsten Start-Up-Rate und das erste, das Uber komplett legalisiert hat.

2. Kein Gott

Das christliche Abendland ist in Estland tot. Die Kirchen sind leer, die Bibel ist für die Esten eine altmesopotamische Märchensammlung und Weihnachten ein Fest, in dem man sich Geschenke macht, viel isst, schulfrei hat und coole Filme guckt – einfach so. 70% der Esten gehören keiner Konfession an, nur 18% geben an, an Gott zu glauben, und für nur 14% spielt Religion eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Einfach wunderbar. Das Beste ist: Gleichzeitig sind die Esten keine Sozialdemokraten. Sie beweisen, dass man auch als Atheist nicht den Aposteln der sozialen Gerechtigkeit huldigen muss. Wenn ich mir dagegen die Kirchen in Deutschland anschaue, sehe ich, dass Christentum und Sozialdemokratie sehr gut zusammenpassen … (more…)

Das Ende des Zwei-Parteien-Systems?

Juli 4, 2016

Wer hätte das gedacht? Es gibt tatsächlich eine dritte Partei in den USA, die beim Präsidentschaftswahlkampf eine Rolle spielt. Und sie haben einen Wahlwerbespot, den ich unterstützen kann. Es ist der erste überhaupt, den ich unterstütze: Politiker machen Werbung damit, besonders viele Gesetze geblockt und Ausgaben gesenkt zu haben! Wann gab es das zuletzt?

Als ich vor drei Monaten Werbung für Gary Johnson machte, sagte ich noch, 5% wären ein „Erfolg epischen Ausmaßes“. Das ist vorbei. 5% wären aus heutiger Sicht eine große Enttäuschung, denn in den letzten drei Monaten hat sich eine Menge getan. Verantwortlich dafür ist eine für mich völlig unerwartet kommende Medienkampagne für Johnson. Fast jede große Zeitung in den USA begann, über Johnson zu berichten, er tauchte in den Umfragen als dritter Kandidat auf, er wurde in Talkshows eingeladen, sogar in Deutschland wurde sein Name erwähnt. Der Hype wurde noch größer, als mit William Weld ein Ex-Gouverneur von Johnson (der ja ebenfalls Ex-Gouverneur und damit einigermaßen bekannt ist) als Vizepräsidentschaftskandidat verpflichtet wurde.

Wie stehen die Chancen? Ein Sieg ist wohl ausgeschlossen, aber ein zweistelliges Ergebnis ist derzeit gut möglich. Die Umfragen sehen Clinton als klare Favoritin bei etwa 60%, Trump bei 30% und Johnson bei 10%. Bei den „Independents“ hat Johnson aber mehr Zustimmung. Er könnte bei der Präsidentenkür eine große Rolle spielen, wenn auch nicht als Sieger. Ein Dank dafür geht an die Weisheit der Libertarian Party, mit Johnson einen bekannten Kandidaten gekürt zu haben statt einen völlig unbekannten ohne politische Erfahrung, aber auch an Hillary Clinton und Donald Trump, die mit ihrem katastrophalen Image einer dritten Partei die Möglichkeit gegeben haben, sich endlich Gehör zu verschaffen. (more…)

Majestätsbeleidigung entsorgen

April 10, 2016

Zurzeit macht ein Erdogan-Schmähgedicht von Jan Böhmermann Schlagzeilen, da er auf einen Sachverhalt aufmerksam machte, der kaum jemandem bekannt ist: Majestätsbeleidigung ist in Deutschland noch immer strafbar. Schade, dass dafür ein künstlerisch wenig anspruchsvolles Gedicht hermusste und nicht das besser gelungene Lied „Putin, Putout“ vom slowenischen Komiker Klemen Slakonja:

Ich finde: Satire darf alles. Außer unlustig sein, denn das ist ein Verbrechen an der Satire. Deswegen ist meine Kritik an deutschen Satirikern nicht ihre Satire an sich, sondern dass sie meistens nicht lustig ist. Spätestens nach der Weimarer Republik ist die deutsche Satire tot. Das liegt nicht hauptsächlich an den Strukturen des deutschen Comedy-Betriebs (obwohl das auch eine Rolle spielt), sondern am fehlenden Talent: Egal ob Staats-Comedy oder Privat-Comedy, deutsche Comedy ist immer unlustig. Deutsche sind gut für Autos und Fußball, aber Deutsche und Humor ist wie Briten und Küche oder Italiener und Heldenmut: Passt einfach nicht. Trotzdem verdient Böhmermann natürlich keine Strafverfolgung wegen Majestätsbeleidigung.

Stellt sich die Frage: Hat Böhmermann wirklich auf den Paragraphen 103 aufmerksam machen wollen oder hat er mit seiner expliziten Nennung des Paragraphen einen Fehler gemacht, nicht wissend, dass es sonst niemand bemerkt hätte? Immerhin hätte die gesamte deutsche Komikergarde im Gefängnis sitzen müssen, wenn man alle Schmähungen gegen Bush geahndet hätte. Wie auch immer, sollte es wirklich zu einer Strafverfolgung gegen ihn kommen, sollte Böhmermann in die USA gehen und dort Asyl beantragen. Ich halte nichts von Märtyrertum, schon gar nicht für weniger wichtige Sachen wie dem Kampf gegen absurde Paragraphen. Das Schockierende ist, dass Paragraph 103 nicht der einzige ist, der im Grunde Majestätsbeleidigung unter Strafe stellt:

§ 90 Verunglimpfung des Bundespräsidenten
§ 90a Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole
§ 90b Verfassungsfeindliche Verunglimpfung von Verfassungsorganen
§ 94 Landesverrat
§ 102 Angriff gegen Organe und Vertreter ausländischer Staaten
§ 103 Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten
§ 104 Verletzung von Flaggen und Hoheitszeichen ausländischer Staaten
§ 109d Störpropaganda gegen die Bundeswehr
§ 166 Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen
§ 189 Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener

Ganz schön happig. Im Übrigen hätte es noch schlimmer kommen: In den 1990er Jahren kam es zu öffentlichen Debatten über Kurt Tucholskys berühmten Satz „Soldaten sind Mörder“. Die CDU/CSU und FDP machten 1995 folgenden Gesetzentwurf zum „Ehrenschutz der Bundeswehr„:

Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreitung von Schriften (§ 11 Abs. 3) Soldaten in Beziehung auf ihren Dienst in einer Weise verunglimpft, die geeignet ist, das Ansehen der Bundeswehr oder ihrer Soldaten in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Zum Glück wurde der Entwurf abgelehnt, aber allein die Tatsache, dass es ihn gab, ist Grund genug, um für die nächsten 50 Jahre (also bis 2045) nicht mehr die FDP zu wählen. (more…)

Das Geschäft mit dem Reinwaschen

Februar 9, 2016

Betreibt Israel Pinkwashing?

Letzten Monat veranstaltete eine israelische Lesben- und Schwulenorganisation eine Konferenz im Hilton-Hotel in Chicago. Die Konferenz wurde massiv gestört und musste abgebrochen werden. Etwas überraschend könnte kommen, wer für die Störungen verantwortlich war: Es waren keine Islamisten oder amerikanische Rechtsextreme, sondern andere LGBT-Aktivisten. Was steckt dahinter? Ein „Bruderkrieg“ zwischen der LGBT-Community war es nicht, es hatte etwas mit der Nationalität der Veranstalter zu tun. Israel ist, so lautete der Vorwurf der Randalierer, ein Apartheidstaat, der Zionismus eine rassistische Ideologie und – jetzt kommt’s – Israel betreibe „Pinkwashing“.

Pinkwashing heißt der Vorwurf, Israel würde versuchen, seine Verbrechen „reinzuwaschen“, indem es auf die gute Behandlung der Lesben und Schwulen in Israel hinweist. Um nicht für das „Reinwaschen“ von Israels Schuld benutzt zu werden, stören einige LGBT-Aktivisten regelmäßig israelische Veranstaltungen und tragen manchmal bei Gay-Pride-Paraden Palästina-Flaggen, was, wenn man sich die Lage der Lesben und Schwulen in Palästina vergegenwärtigt, nur geringfügig absurder ist, als wenn ein Jude eine Nazi-Flagge tragen würde. Natürlich ist der Pinkwashing-Vorwurf Unsinn. Allerdings nicht, weil die gute Behandlungen der Lesben und Schwule in Israel ein Selbstzweck ist und nicht der „Reinwaschung“ dient, sondern weil es nichts reinzuwaschen gibt.

Der Pinkwashing-Vorwurf wäre legitim, *wenn* die anderen Vorwürfe gegen Israel wahr wären. Wenn Israel ein Apartheid-Staat wäre, Gaza ein Hunger-KZ und die Westbank kolonisiert würde, wäre der Verweis auf die gute Behandlung der Lesben und Schwulen wirklich Relativierung, denn eine vermeintliche Wohltat macht anderweitig begangene Verbrechen keinen Deut besser. Aber die Vorwürfe gegen Israel sind nicht wahr, sondern totaler Unfug, also ist der Pinkwashing-Vorwurf auch Unsinn. Die Taktik des Reinwaschens ist aber durchaus real, sie ist bei vielen modernen und historischen Regimes weitverbreitet. Der Klassiker ist noch immer die Anmerkung, das Nazi-Regime hätte zwar viele üble Taten vollbracht, aber auch für eine signifikante Verbesserung der Transportmöglichkeiten im Reich gesorgt. (more…)