Corona-Lektionen (2): Wahrscheinlichkeitstheorie und das Dilemma von Black Swan Events

Aus den Zeiten der Spanischen Grippe

Man stelle sich folgendes Szenario vor: Eine Gruppe von Astronomen aus den USA behauptet, einen Asteroiden entdeckt zu haben, der in drei Monaten mit 99%-iger Wahrscheinlichkeit auf die Erde einschlagen wird. An dessen Folgen (Flutwellen, jahrelange Dürren mit Ernteausfällen) könnten Millionen Menschen sterben. Die Mehrheit der Astronomen stimmt den amerikanischen Astronomen zu, während einige wenige den Asteroiden als „nicht gefährlicher als andere“ abstempeln. Um den Einschlag zu verhindern, hilft nur der Bau von Raumsonden, die mit bestimmten Manövern den Asteroiden auf eine andere Bahn lenken, damit er die Erde verfehlt. Die Kosten für den Bau dieser Raumsonden liegen bei etwa 20 Billionen Dollar.

In diesem Fall wäre es anscheinend sehr vernünftig, die Welt auf Pause zu setzen und alle möglichen Ressourcen – inklusive der menschlichen Arbeitskräfte – zum Bau der Raumsonden zu verwenden, die den Asteroiden aus seiner Bahn lenken. Aber es gäbe trotzdem massive Kritik daran, denn innerhalb von drei Monaten müsste man einen Großteil der Ressourcen von vielen Volkswirtschaften radikal umstellen. Viele Branchen müssten ihr ganzes Material abgeben, damit es zum Bau der Raumsonden verwendet wird, und würden damit in den Bankrott getrieben. Zusätzlich dazu müsste eine saftige Asteroiden-Abgabe eingeführt werden. Menschen, die sich den Maßnahmen widersetzen, müsste man mit der Staatsgewalt begegnen.

Wären die Anstrengungen es dennoch wert? Nun … „das hängt davon ab“, um es ökonomisch auszudrücken. Viele Variablen müssten zutreffen. Die amerikanischen Astronomen müssten mit ihrer 99%-igen Wahrscheinlichkeit Recht haben. Die Forscher, die die dramatischen Folgen prophezeien, müssten Recht haben. Vor allem aber: Die Forscher, die nach Abwehrmöglichkeiten gegen den Asteroiden suchen, müssten Recht haben, dass der Bau der Raumsonden der einzige Weg wäre, den Asteroiden von der Erde zu lenken und dass diese Maßnahme nicht mehr negative Folgen (Weltwirtschaftskrise, Versorgungsengpässe, Millionen Tote) hat als den Asteroiden einschlagen zu lassen und sich bestmöglich auf die Folgen einzustellen.

Was hat das mit dem Coronavirus zu tun? Ich bin ganz hin- und hergerissen von dem Umfang der Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus. Um ehrlich zu sein: Ich habe keine Ahnung, ob es mehr Gutes oder mehr Schlechtes haben wird. Dafür gibt es eine ganze Menge Gründe: Die Datenlage ist noch immer relativ klein, so dass die ungefähre Ansteckungs-, Todes- und Hospitalisierungsrate nicht mit Sicherheit bekannt ist. Es ist nicht bekannt, ob die Maßnahmen des „Social Distancing“ auf Dauer die massive Überlastung des Gesundheitssystems verhindern oder ihn auf die Zukunft verschieben und länger andauernd machen wird. Und wir wissen nicht, ob eine katastrophale Wirtschaftskrise am Ende schlimmer sein wird als eine lockerere Quarantäne.

Das Coronavirus ist ein „Black Swan Event„: Ein Ereignis, das sehr viel seltener ist als alle gewöhnlichen Ereignisse. Dazu zählen u.a. besonders schlimme Naturkatastrophen, ein nuklearer Super-GAU oder politische Massaker mit Millionen Toten. Auf lange Zeit töten diese Ereignisse weniger Menschen als alle alltäglichen Gefahren (oder gar keine). Aber ein einzelnes Ereignis hat das Potenzial, innerhalb kürzester Zeit weit mehr Menschen zu töten als alle Alltagsgefahren im selben Zeitraum. Man stelle sich vor, jemand sagt 2050: In den letzten 20 Jahren sind in New York weniger Menschen an Terroranschlägen gestorben als an herunterfallenden Stühlen. Aber wie aussagekräftig wäre das, wenn 2030 ein nuklearer Terroranschlag 20.000 New Yorker getötet hätte?

Egal ob Naturkatastrophen, nukleare Super-GAU, Machtübernahmen von Kommunisten oder tödliche Pandemien: Auf alles kann man sich angemessen vorbereiten. Die Frage ist nur: Wann weiß man, ob das Black Swan Event da ist? Und woher weiß man, wie schlimm es werden wird? Mit den Mitteln der Wahrscheinlichkeitstheorie kann man vieles sehr genau bestimmen. Es macht mehr Sinn, sich in Kalifornien auf ein großes Erdbeben vorzubereiten als auf eine Nazi-Diktatur durch Trump. Die Variablen sind eindeutig. Aber manchmal kann die Datenlage unklar sein, so könnte eine falsche Variable bei dem oben beschriebenen hypothetischen Asteroideneinschlag schlimme Folgen für die Welt haben … oder jetzt beim Coronavirus. Dann bleibt nur eins: Ungewissheit.

9 Antworten to “Corona-Lektionen (2): Wahrscheinlichkeitstheorie und das Dilemma von Black Swan Events”

  1. Eloman Says:

    Was wir definitiv bis zum heutigen Tag nicht wissen, ist die tatsächliche Zahl der Infizierten. Nur mit dieser Zahl haben wir einen Überblick über das wahre Ausmass der Pandemie. bei einem Asteroiden kann man anhand seiner Bahn ziemlich genau sagen, ob er auf der Erde einschlägt oder nicht.

    • arprin Says:

      Es gab durchaus Fälle, bei denen Astronomen sich uneinig waren, wie nahe genau ein Asteroid der Erde kommen würde. Aber vor allem über die Folgeschäden (Flutwellen, Dürren usw.) würde es sicherlich Uneinigkeit geben.

      Für die aktuelle Lage finde ich: Es bräuchte definitiv eine große Anstrengung, um einen deutlich größeren Anteil der Bevölkerung nach dem Virus zu testen. Sonst sind die Wirksamkeit der Maßnahmen völlig ungewiss.

  2. shaze86 Says:

    Wir wissen nicht wie tödlich corona ist, wollen aber eine Methode anwenden von der wir noch viel weniger abschätzen können welche Folgen diese hat. Nebenbei pfeiffen wir einfach auf jegliche Freiheitsrechte. Das klingt doch nicht nach einer guten Lösungsstrategie.

    • arprin Says:

      Ich sehe es so wie du. Wir gehen einen sehr riskanten Weg, der eine Krise wie 1929 auslösen könnte, ohne zu wissen, wie große die Gefahr durch das Virus ist, oder ob der Shutdown die Gefahr signifikant eindämmen wird. Es ist langsam tragisch. Oder eher tragikomisch …

    • Olaf Says:

      Das Virus macht was es will, es kommt und geht und hält sich nicht an Merkels Pläne. Die Virologen erzählen zwar, was Merkel will, aber dem Virus ist das schnuppe.

  3. Yadgar Says:

    Meinst du wirklich 20 *Billionen* (also 10^12) – oder sind das anglo-amerikanische Milliarden („billions“)? In letzterem Fall wären die Kosten mit Bankenrettung in der letzten Finanzkrise vergleichbar und folglich nichts, was wirklich weh täte, in letzterem Fall wäre es eh hoffnunglos, denn 20 Billionen (eine 2 mit 13 Nullen!) nicht viel dürften weniger als das zusammengerechnete Weltbruttoinlandsprodukt sein…

  4. Dr. Caligari Says:

    Sehr geehrter Herr (oder Frau?) „arprin“!

    Es ist mir eine Freude dich mal wieder zu lesen. Deine konsequent freiheitliche und dem Konservativen genauso wie den Linken angeneigte Sicht auf die Weltpolitik ist immer ein kleiner Gewinn. In Zukunft bitte mehr davon.

    Ansichts der gegenwärtigen Krise habe ich verschiedene Gedanken gehabt und es von verschiedenen Seiten betrachtet, deshalb will ich das kommende Mal gliedern:
    I.
    Bisher war ich in meiner leicht naiven Weltsicht davon ausgegangen, dass die großen Staatschefs und Politiker der Welt, vielleicht auch die Vereinten Nationen, ein öffentlich nicht kommuniziertes und/oder nicht wahrgenommenes Notfallprogramm in der Hinterhand haben. Immerhin bezahlen die doch zahllose Berater, Geheimdienste und Ausschüsse, da wäre es doch zu erwarten gewesen, dass man solche Menschheitsgefahren wie weltweite Seuchen, nicht mehr lokal eindämmbare Kriege oder ähnliches zumindest mal durchdenkt. Doch ich hatte offensichtlich unrecht. Offenbar haben irgendwelche Hollywood- und Thriller-Autoren, beides aus den anglophonen Raum, das Thema besser durchdacht als die meisten Sicherheitsexperten.
    Diesen Eindruck habe ich zumindest für die meisten westlichen Staaten, wobei ich gerne darüber streiten will, ob das nicht auch ein bisschen an Trump liegt, der die Notfallpläne einfach nicht kennt und sich nicht beraten lässt, die aus der Schublade zu holen. Das Rumgeeier in Deutschland dagegen entspricht vollständig meinen persönlichen Erwartungen.

    Ich hoffe ernsthaft, dass die Menschen in Zukunft aus dieser Sache lernen und solche Pläne entwickeln.

    II.
    Das Virus ist kein Black Swan Event. Die Wiederkehr von Cthulhu wäre wohl ein Black Swan Event, denn damit rechnet wirklich niemand ernsthaft.
    Eine globale Seuche? So etwas ist bereits mehrfach passiert, selbst innerhalb der letzten 100 Jahre. Wer nicht ernsthaft damit rechnet, der ignoriert einen Teil der Menschheitsgeschichte.

    III.
    Wir befinden uns in einer Situation, die an anderer Stelle schon theoretisch diskutiert wurde:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Entscheidung_unter_Ungewissheit

    Es ist klar, dass davon keine Anwendung gemacht werden wird.

    IV.
    Das Problem ist, niemand kann heute seriös etwas über die Spätfolgen des Corona-Infektes sagen, niemand weiß, in welche Richtung das Virus mutieren wird und niemand weiß, ob es einen zweiten oder dritten Schub geben wird wie bei der spanischen Grippe.
    Wir wissen nur folgendes, je mehr Menschen vom Virus real betroffen sind, desto höher die Wahrscheinlichkeit für eine tödliche Mutation – das ergibt sich durch Nachdenken von selbst, je öfter sich das Virus vermehrt, umso größer die Wahrscheinlichkeit einer tödlichen Mutation; jeder Neuinfekt würfelt sozusagen noch einmal – , desto höher die spätere Betroffenheitsrate für etwaige Spätfolgen, seien es nun Kurzatmigkeit oder irgendwelche Änderungen am Nervenkostüm und desto größer die Folgekosten für die Gesellschaft.
    Selbst wenn das Virus sich als harmlos erweisen sollte, was heute kein Mensch mit Sicherheit weiß, ist das Setzen auf eine Herdenimmunität oder dergleichen fahrlässig. Etwas anderes ist es natürlich, wenn man das Virus eh nicht aufhalten kann.

    V.
    Aus einer individuellen Sichtweise (individualist point of view) ist für mich jedenfalls alles klar: Meine Person hält sich an die Regeln. Mit allen negativen Konsequenzen.

    Gruß

    Caligari.

    • arprin Says:

      Herr arprin.

      Danke für das Lob, ich werde noch mehr zu Corona schreiben.

      I. Katastrophenszenarien durchzuspielen ist das Eine, sich darauf vorzubereiten das Andere. Unsere Bundesregieurng hat offenbar nur Ersteres gemacht.
      Zum Glück sagen Geologen, dass der baldige Ausbruch eines Supervulkans sehr unrealistisch ist. Ich wäre mir aber bezüglich eines „Big One“-Erdbeben in Kalifornien nicht zu sicher …

      II. Alle 100 Jahre ist schon rar. Man kann es als sehr seltenes Ereignis einschätzen. Sogar Weltkriege kann man Black Swan Events nennen, und der letzte liegt weniger lange her als die spanische Grippe. Am Ende ist es aber auch reine Definitonssache.

      III., IV. Wir wissen erstaunlich wenig. Ich gebe dir Recht, dass man die Gefahr des Virus nicht unterschätzen sollte. Mutationen wird es laut den Virologen sehr wahrscheinlich geben.
      Aber ab einem gewissen Punkt muss man verhindern, dass die Wirtschaft nicht zu sehr zerstört wird. Die Gefahren, die das bringen würde, sind bekannt.

      V. Sehe ich genauso.

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